Roes, Michael: Die Laute. Roman – Berlin: Matthes & Seitz, 2012. – 525 S.
ISBN 978-3-88221-986-9: € 24,90 (geb.)
Der Topos vom gehörlosen Komponisten mit seiner ihm inhärenten Dialektik der inneren und äußeren Musik hat sich spätestens seit der romantisierenden Beschäftigung mit Beethoven als dankbarer Aufhänger für musikliterarische Schöpfungen unterschiedlichster Qualität bewährt. In seinem für den Deutschen Buchpreis 2012 nominierten Roman Die Laute kokettiert Michael Roes durchaus mit diesen althergebrachten Klischees, die im neuen Kontext allerdings an psychologischem Facettenreichtum gewinnend hin zu neuen Ebenen transzendieren. Sensibel, aber ohne jede Sentimentalität – in seiner Unmittelbarkeit manchmal sogar beinahe derb anmutend – wird auf gleich drei einander abrupt ablösenden Erzählebenen die Geschichte einer Identitätsfindung erzählt:
Der fußballbegeisterte jemenitische Junge Asis wird vom Blitz getroffen, wodurch scheinbar abrupt eine völlige Wandlung seiner Interessen hin zur Musik eintritt. Durch den Unfall kommt es zudem zu einer schicksalsbestimmenden Begegnung, denn Asis’ Lebensretter, ein zufällig anwesender Kardiologe, der an einem nahen öffentlichen Telefon eben ein Gespräch führte, wird zum meist im Verborgenen wirkenden guten Geist seines Lebens. Offensichtlich wurde Roes hier von der Biographie Anthony Cicorias inspiriert, der 1994 ebenfalls nach einem Blitzschlag (er wurde von einer vor einer nahegelegenen Telefonzelle wartenden Intensivkrankenschwester wiederbelebt) zur Musik fand. Anders als Cicoria verliert Roes’ Protagonist Asis jedoch als Folge eines schweren Übergriffs sein Gehör bereits im Teenageralter, was einen weiteren Wendepunkt einleitet. Anfangs noch verloren in der persönlichen Isolation zwischen der äußeren Welt, deren akustische Bezugspunkte Asis verloren hat, und seiner inneren, die zu erschließen er soeben erst im Begriff ist, lernt er allmählich ein Universum jenseits der Stille kennen, dessen Gestalt er nicht nur optisch, sondern insbesondere sensorisch in sich aufnimmt und über die ihn umgebenden Schwingungen in Geräusch und Klang übersetzt. Zum zentralen Instrument dieses Prozesses wird seine Haut, die gleichsam leitmotivisch – wenn auch auf eine Metaebene entrückt – an späterer Stelle als essentielles Element einer fiktiven, von Asis verfassten Oper auf den antiken Stoff der Schindung des Silen Marsyas durch Apollon wiederkehrt. Hier nun wird die Ambivalenz des Mediums „Haut“ als eine Membran ersichtlich, die einerseits als unmittelbares Bindeglied zwischen dem Ich und dessen Umwelt fungiert, andererseits aber gerade dadurch beide Elemente erst voneinander trennt. Als bedeutsam erscheint hier gerade die parallel mitgedachte traditionelle Deutung des Mythos als (durchaus grausame) Opferung der Natur zugunsten der Zivilisation, deren maßgebliches Resultat die Individuation ist. Der den Kontext zu der ihn umgebenden Welt längst verloren habende Künstler Asis sympathisiert in seinem Ringen mit der eigenen Entfremdung mit dem geschundenen Marsyas, während er auf die Person eines sich ihm in Freundschaft und Respekt annähernden polnischen Komponistenkollegen zunächst mit Misstrauen und Ablehnung reagiert: Die in Identifikationsprozesse übersetzte Unsicherheit Asis’ führt dazu, dass er auf ihn die feindlichen Züge des siegreichen Konkurrenten Apoll projiziert, ehe über mühsame Umwege eine Freundschaft zwischen den beiden Komponisten möglich wird.
Michael Roes präsentiert mit Die Laute deutlich mehr als eine weitere Fortspinnung des Mythos vom tauben Komponisten im neuen Kontext, mehr auch als eine psychologische Studie. Der Roman ist eine Geschichte über das Wachsen und Vergehen von Freundschaften, von Selbstfindung und -überwindung, von Osten und Westen, von Innen und Außen, Nähe und Distanz, von Klang und Stille. Es ist eine Geschichte der oft einander bedingenden Gegensätze, die sich vielleicht nicht auflösen, in der Kunst aber vereinen lassen – und sei es in scheinbarer Disharmonie. Mögen schließlich auch die musikästhetischen Reflektionen, die Roes gelegentlich durchblicken lässt (sind es seine eigenen oder die seines Protagonisten Asis?), zum Teil recht zweifelhaft anmuten, so gelingt es dem Autor doch, mit der von ihm im Handlungsverlauf fragmentarisch skizzierten Oper eine unbestimmte Neugier darauf zu wecken, wie dieses Werk wohl tatsächlich klingen würde. Unterschwellig verleiht diese Neugier dem Roman auf gleichsam intermedialer Ebene einen offenen Schluss. Genussvoll unzufrieden legt man das Buch beiseite, in der unbestimmten Überzeugung, ein realer Komponist würde schon in naher Zukunft getreu der Tradition des Goethe’schen Gretchen am Spinnrad Michael Roes’ Die Laute um die real akustische Dimension erweitern.
Michaela Krucsay
Leoben, 07.10.2012