Dammann, Clas: Stimme aus dem Äther – Fenster zur Welt. Die Anfänge von Radio und Fernsehen in Deutschland. – Köln: Böhlau, 2005. – 283 S.
ISBN 3-412-23205-X : € 34,90 (brosch.)
Kulturgeschichte ist Mediengeschichte. Ob Musik, Literatur oder auch visuelle Kunstgattungen, ob Bildung, Information oder Unterhaltung – stets führt ihr Vermittlungsweg über Medien und Kanäle mit technisch-funktionellem Eigenprofil, die bei ihrer Ankunft die Lebenswelt und Mentalität ganzer Kulturkreise revolutionierten, für kontroverse Auseinandersetzungen sorgten und produktive Wechselbeziehungen initiierten, ja eigene Idiome hervorbrachten. Clas Dammann, derzeit ZDF-Mitarbeiter in Mainz, konzentriert sich in seiner Dissertation stofflich auf die der Entstehung nach relativ eng benachbarten Massenmedien Radio und Fernsehen, geographisch auf Deutschland und zeitlich auf die jeweiligen Anfangs- und Orientierungsphasen (1923 bis 1932 für Radio, 1952 bis 1963 für Fernsehen). Und so kreist der zweite der beiden Hauptteile um die Entwicklung ureigener, die kulturelle Mission des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bedienender Kunstformen: des Hörspiels und des Fernsehspiels. Ihre Schlagkraft jedoch beziehen diese analytisch punktgenauen Fallstudien zu einem Kapitel dezidiert praktischen Tuns erst vor der Folie einer theoriebezogenen Ausgangsbetrachtung, in der das eigentlich Brisante von Dammanns medienkundlicher Perspektive liegt: dem ersten Hauptteil mit einem systematischen Vergleich von Radio- und Fernseh-Debatte.
Hierbei geht Dammann von der These aus, dass die Ankunft neuer Medien stets von einer Diskussion begleitet werde, „die sich bedient aus einem zunehmend stabilen Repertoire rhetorischer Topoi und diskursiver Figuren. (…) In der jeweiligen Situation werden diese Formationen aktualisiert und neu akzentuiert.“ (S. 15) Somit seien in den unterschiedlichen Diskussionen also weniger historische Differenzen zwischen den Denk- und Handlungsstrategien als vielmehr historische Variationen feststellbar. Zur exegetischen Auswertung und Interpretation von Radio- und Fernseh-Debatte zieht Dammann „O-Töne“ heran, in denen zahlreiche Schriftsteller (z. B. Tucholsky, Eco), Intellektuelle (z. B. Kracauer, Benjamin), Publizisten (z. B. Kisch) und Programmverantwortliche (z. B. Grimme, Holzamer, Höfer) die medialen Qualitäten von Radio und Fernsehen reflektieren. Unter medienproblematischen Fragestellungen erfolgt pro Unterkapitel ein zunächst zwischen Radio und Fernsehen trennender, dann resümierender Befund. Und mit kultur- und mentalitätspsychologischer Hellsicht weiß Dammann einschlägige Reaktionsmuster, zumal wenn sie für Radio und Fernsehen unterschiedlich ausfallen, mit mehr oder weniger benachbarten Diskursen in Beziehung zu setzen. So etwa stand zur Verarbeitung mancher Irritationen infolge der befremdenden Wahrnehmung körperloser Lautsprecherstimmen dank der Erfahrung des Heiligen „zumindest ein erprobter Bewältigungsrahmen zur Verfügung“ (S. 35). Dagegen wurden die ersten Fernseh-Bilder im „optischen Zeitalter“, das bereits durch Kinoerfahrungen und Illustrierte vorgeprägt war, zwar ohne Schockerlebnisse aufgenommen, andererseits aber – gemäß traditionellem Bild-Diskurs seit Einführung der Schrift – mit einem Negativ-Etikett versehen. An Quellen reich und historiographisch solide unterfüttert, folgen Kapitel zum spürbaren Unbehagen an der medial vermittelten Massenkommunikation sowie zur „Vernichtung von Raum und Zeit“, wobei – auch dies ein zentrales Diskursmerkmal – die Empfindung des Neuartigen nicht ohne Rückstände des Gewohnten, die verinnerlichten „Raum- und Zeitkarten“, funktionieren kann. Welcher Natur sind die medial intendierten und realisierten Zugänge zur Wirklichkeit? Wie vermischen sich Öffentlichkeit und Intimität im Rezeptionsvorgang? Wie gestaltete sich das virulente Spannungsverhältnis von „Kulturmission und Kulturzerstörung“? Vor welchen Herausforderungen standen Schriftsteller durch ihre Arbeit für die neuen Medien?
Mochten die hierzu herausgearbeiteten Thesen und Postulate auch ideell den Metiergeist bestimmt haben, so verlief der Programmalltag oft nach anderen Regeln, die – von den Theoretikern kaum bedacht – primär durch technisch-materielle Gegebenheiten diktiert waren. Paradigmatische, subtil vergleichende und die Genre-Metamorphosen exemplarisch widerspiegelnde Einzelanalysen liefert der genannte zweite Hauptteil: jeweils sechs Hörspiele (vom wortkünstlerisch-bühnendramatischen Arnolt Bronnen bis zum klangartistisch-collagehaft produzierenden Walter Ruttmann) und Fernsehspiele (von Franz Peter Wirths Literaturadaption als Live-Kammerspiel bis zu Kipphardts dokumentarischem „Oppenheimer“). Die umfassende Erforschung evidenter Analogien zu Debatte und Praxis von Buchdruck seinerzeit und digitalen Medien heutzutage bleibt, so Dammann im Schlusswort, „Aufgabe einer vergleichenden Diskurs- und Literaturgeschichte des Medienwandels.“ (S. 267)
Andreas Vollberg
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 27 (2006), S. 108f.