Gisella Selden-Goth: Zukunft der Zukunftsmusik. Essais [!] 1923–1937 [Peter Sühring]

Gisella Selden-Goth: Zukunft der Zukunftsmusik. Essais [!] 1923–1937 / Hrsg. von Robert Schmitt Scheubel – Berlin: consassis.de, 2012. – 151 S.
ISBN 978-3-937416-41-0 : € 39,00 (kt.)

Da der Herausgeber konzessionslos gegenüber der Unwissenheit seiner Mitmenschen ist und nicht einmal die Lebensdaten einer gewissen Dame aus Ungarn preisgeben oder bekannt machen möchte, sei es hier getan: Gisella Selden-Goth (geb. 1884 in Budapest, gest. 1971 in Florenz) schrieb in den 1920er und -30er Jahren für das Prager Tagblatt Musikfeuilletons, die sie als eine der findigsten und originellsten und unerschrocken selbständigen Köpfe der Zeit auszeichnen. Aus diesem Fundus stammen alle Essays, die für dieses Buch ausgesucht wurden. Selden‑Goth sei selten gut kalauerte doppeldeutig der kaum bekanntere (il)legitime „erste Enkel“ Richard Wagners, Franz W. Beidler (1901–1981), in einem Brief an den immerhin wegen seines Mozart-Buches fast populär gewordenen Alfred Einstein – es war wohl eher lobend als tadelnd gemeint. Denn wirklich: Oft sind ihre musikalischen Essays und Berichte besser als manches andere, was man aus dieser schwierigen Zeit so kennt. Ferruccio Busoni, dessen willige Kompositionsschülerin, gewollte Freundin und ungewollte Biografin sie war, meinte noch 1914, sie (neben ihrem Landsmann Bela Bartók) seinem Verleger bei Breitkopf & Härtel, dem Herrn Geheimrat Oscar von Hase, mit dem Hinweis darauf empfehlen zu müssen, dass sie eine „Componistin mit männlicher Begabung“ sei. Später schrieb sie in der deutsch-jüdischen Emigranten-Zeitung Aufbau in New York und war auch mit Stefan Zweig befreundet, über dessen Verhältnis zur Musik sie dann auch etwas zu berichten wusste.
Mitten in den Grabenkriegen zwischen den Traditionalisten und den Neueren und innerhalb der Neuerer zwischen den Polytonalen, Atonalen und Zwölftönern saß sie wie ihr Lehrer und Freund zwischen allen Stühlen. Denn der Begriff einer Neuen Klassizität, wie Busoni ihn geprägt hatte, ließ ja Erfindungen von Musik an der Grenze der Tonalität durchaus zu.
Ihre Berichte und Feuilletons gewähren einen lebendigen Blick ins volle Musikleben der Weimarer Republik (vornehmlich in die Berliner Spielzeiten) und nach 1933 in das Österreichs (in die Salzburger Festspiele) und Italiens (Siena und Venedig). So wie sie es verschmäht, selbst gegenüber den von ihr verehrten Musikern wie Gustav Mahler in eine kritiklose Bewunderung zu verfallen, so scheut sie sich auch nicht, Geistlosigkeit und Dummheit in der neuen Musik und einzelner ihrer Repräsentanten zu geißeln und zu verspotten. An Mahlers 8. Sinfonie nimmt sie sehr wohl wahr, wie einiges zu dick aufgetragen, manches zu süßlich und ungeschickt konstruiert ist (S. 9). An den mystischen Pamphleten und der nackten Musik des Joseph Matthias Hauer macht sie die Zukunftslosigkeit dieser Art von Zukunftsmusik, die meinte, sich mit der Schönbergs messen zu können, plausibel. Das ermüdende Gestammel von Hauers eintönigen Melodiefetzen kontert sie mit der Frage, ob Hauer selbst nicht auch heimlich Chopin spiele (S. 17). Dass sie stattdessen Bartók für jemanden hält, der die Musik wirklich bereichert hat, daraus macht sie keinen Hehl. Scharfsinnige Aufführungskritiken gibt es hier auch zu finden, aus Oper, Konzert und Tanz in Berlin; dass das Radio das Hören dominiert, fing schon damals an, und sie konstatiert und kritisiert es; dass keiner mehr Noten liest oder schöne Notenausgaben verschenken möchte. Toscaninis Salzburger Aufführungen des Fidelio und der Meistersinger, hier kann man sie beschrieben finden. Und der musikalische Teil des Band endet mit einem ganz besonders der Zukunft zugewandten Artikel: „Das neue Palästina-Orchester“ vom 03.01.1937. Es gibt noch einen Anhang nicht-musikbezogener Feuilletons, die zeigen, dass sie auch sonst nicht auf den Kopf gefallen war und scharf beobachtete.
Der editorisch begleitende Aufwand des Herausgebers ist äußerst bescheiden, man liest und blättert, fühlt sich erheitert und belehrt, aber auch etwas allein gelassen. Wer war eigentlich diese selten gute Selden-Goth?

Peter Sühring
Berlin, 12.07.2012

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