Gustav Jacobsthal: Übergänge und Umwege in der Musikgeschichte. Aus Straßburger Vorlesungen und Studien / Hrsg. von Peter Sühring. – Hildesheim [u.a.]: Olms, 2010. – 662 S.: 16 Tafeln
ISBN 978-3-487-14215-9 : € 68,00 (geb.)
Übergänge und Umwege zu thematisieren ist moderner, als man es einem Gelehrten eigentlich zutrauen würde, der wie Gustav Jacobsthal (1845–1912) ganz und gar dem 19. Jahrhundert angehört; in der Philosophiegeschichte hat Ernst Cassirer eine derartige Themenlage aufgegriffen, und er ist um eine Generation jünger als Jacobsthal. So ist man gespannt auf den zu besprechenden stattlichen Band, der einen Teil des unveröffentlichten OEuvres des 1845 geborenen Musikwissenschaftlers ans Licht hebt. Es mag sein, dass sich skeptische, in ihrem Urteil vorsichtige Menschen von Epochenschwellen und von geschichtlichen Verläufen, die nicht geradlinig sind, angezogen fühlen, und zu ihnen gehört Jacobsthal.
Den Titel des Bandes hat – mangels einer geeigneten Vorlage – der Herausgeber gewählt. Er steht nun für das Werk eines Musikforschers, der seinerseits nicht leicht in Schubladen zu stecken ist. [Zu Jacobsthal s. a. den Beitrag des Hrsg. in FM 28 (2007), S. 17–27].
Wer war Gustav Jacobsthal? Der Sohn eines jüdischen Arztes in Hinterpommern studierte in Berlin bei Heinrich Bellermann und Eduard Grell. Von der cäcilianischen Gesinnung seiner Lehrer berührt, begab sich Jacobsthal in die Mittelalterforschung. 1870 promovierte er an der Berliner Universität. Im Anschluss daran ging er nach Wien, um sich mit zusätzlichen hilfswissenschaftlichen Kenntnissen zu versehen; dort begegnete er dem Germanisten Wilhelm Scherer. Nach der Habilitation über Hermann von Reichenau nahm Jacobsthal 1872 die Chance wahr, im soeben annektierten Elsaß-Lothringen an der Universität Straßburg zu lehren, die als reformerische „Arbeitsuniversität“ innovativ war. Jacobsthal wirkte dort 33 Jahre lang, ehe er krankheitsbedingt emeritiert werden musste. Er starb 1912 in Berlin; sein Grab befindet sich auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee.
Es ist ein wissenschaftsgeschichtlich bemerkenswerter Umstand, dass mit Jacobsthal ein ungetaufter Jude das erste Ordinariat für Musikwissenschaft im Deutschen Kaiserreich innehatte. Doch ist Jacobsthal nicht nur durch diese äußeren Umstände seines Wirkens interessant. Denn dieser skrupulöse, zögerliche, um äußerste Genauigkeit und Gründlichkeit bemühte Gelehrte betrieb Geschichtsforschung im besten Sinne. Er lebte für seine Vorlesungen und seine mit ausgedehnten Reisen verbundenen Quellenstudien, ohne allzu viel zu publizieren. Der Schweizer Organist und Musikwissenschaftler Jacques Handschin bezeichnete ihn 1935 in einer Oxforder mediävistischen Zeitschrift als „einen der beiden Begründer der deutschen Musikwissenschaft“ (neben Philipp Spitta). In Deutschland dagegen wurde Jacobsthal zwar nicht direkt vergessen, jedoch – was beinahe schlimmer ist – sozusagen mit falschen Etiketten versehen. Bald nach Jacobsthals Tod fand unter maßgeblicher Beteiligung seiner Schüler eine Meinungsbildung statt, die seine Leistungen marginalisierte.
Peter Sühring arbeitet seit Jahren daran, diesen bedeutenden Musikforscher – einen Gelehrten ohne Misere – zu rehabilitieren. Es geht ihm nicht um eine bloß antiquarische Bestandsaufnahme. Denn er ist überzeugt, dass Jacobthals Ansätze und Überlegungen in mancher Hinsicht bis heute tragfähig, zumindest aber diskutabel sind. Sühring widmet sich seiner Aufgabe mit Kenntnisreichtum und Akribie; er scheut dabei auch die unspektakulären Arbeitsschritte nicht: Alles begann mit einer detaillierten Inventarisierung des Nachlasses in der Staatsbibliothek zu Berlin, den jahrzehntelang niemand mehr eingesehen hatte. Im vorliegenden Band präsentiert Sühring nun einen Jacobsthal, dessen Horizont weit über das Mittelalter hinausgeht und vom Codex Montpellier über Palestrina, Monteverdi, Carl Philipp Emanuel Bach bis zu Haydns frühen Quartetten und Mozarts Idomeneo reicht. Es ist das Verdienst des Herausgebers, mit der vorliegenden profunden Edition eine Neubewertung Jacobthals zu ermöglichen.
Dietmar Schenk
zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 32 (2011), S. 199f