Jansen, Albert: Jean-Jacques Rousseau als Musiker – Berlin: Reimer, 1884 / Reprint Bremen: Europäischer Literaturverlag, 2011. – 482 S.
ISBN 978-3-86267-449-7 : € 49,90 (kt.)
Bis heute halten seriöse Musikkenner Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), dessen 300. Geburtstag in diesem Jahr begangen wird, für eine nur halbe musikalische Begabung, mindestens also für einen Dilettanten, wenn nicht für einen Scharlatan oder gar Plagiator, und seine Werke können dem Vorwurf, seicht zu sein, nur schwer standhalten. Doch muss man zugeben, dass das praktische und musiktheoretische Wirken dieses Mannes für die Epoche der europäischen Aufklärung und für die Fabrikation von musikalischer Hausmannskost und Galanteriewaren typisch und beachtenswert ist. Einspielungen seiner Werke gibt es kaum, sieht man einmal von dem kürzlich unternommenen kläglich mißlungenen Versuch ab, Rousseaus späte Summe seiner musikalischen Poetik, die Consolations des misères de ma vie ou Recueil d’airs, romances et duos für ein modernes Begleitensemble mit Streichern, Böhm-Flöte und moderne Klarinette zu arrangieren (Ensemble Alba beim Label Quantum). Nachdem bereits Peter Gülke vor 28 Jahren eine musiktheoretisch orientierte Ehrenrettung Rousseaus unternommen hatte, in der es ihm darum ging, den Dilettanten trotz aller verächtlichen Einwände für zuständig zu erklären, ist nun dankenswerterweise die erste große Gesamtdarstellung von Rousseau als Musiker, die vor 128 Jahren auf Deutsch erschien, wieder nachgedruckt worden. Ihr Autor Albert Jansen (Lebensdaten unbekannt und schwer zu ermitteln) war ein preußischer Historiker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ein Rousseau-Versteher und -Verehrer (was bei dem schillernden und eigenbrödlerischen Charakter dieses Mannes nicht leicht gefallen sein dürfte), der es als aufrechter Demokrat sogar bis in die Spalten der Preußischen Jahrbücher brachte, einem Organ, das nicht gerade durch Liberalität auffällig war.
Jansen widmet sich allen Aspekten der musikalischen Tätigkeit Rousseaus, seiner zögernden musikalischen Sozialisation in seiner Schweizer Heimat und seinem lebenslang durchgehaltenen Entschluss, als Kritiker der künstlerischen und wissenschaftlichen Institutionen des Adels, der Kirche und des Bürgertums jegliche Festanstellung zu verweigern und sich als freier Schriftsteller mit dem Entgelt für seine Arbeiten als Notenkopist durchzuschlagen. Dennoch hat Rousseau entscheidend in die Musikgeschichte und die Entwicklung musikhistorischer und -theoretischer Debatten eingegriffen. Seine Liebe zur italienischen Musik des Südens (die der späteren Nietzsches kaum nachsteht) rührte von einem Aufenthalt in Venedig her, wo er als Sekretär des Französischen Konsuls in den 1730er Jahren fast zwei Jahre zubrachte.
Rousseau provozierte daraufhin die Franzosen mit seinen negativen Thesen über die französische Musik und die angeblich musikuntaugliche französische Sprache, legte sich mit Jean-Philipp Rameau an, komponierte aber inkonsequenterweise ein französischsprachiges Intermezzo mit Rezitativen in italienischem Stil über einen Devin du vilage, dessen bis nach Salzburg gedrungene Parodie wiederum dem Knaben Mozart dazu diente, seine erste deutsche Operette (Bastien und Bastienne) zu schreiben. Er erfand mit seinem Pygmalion das Genre des Melodram, das bald auch in Deutschland eifrige Nachahmer fand, er schrieb die Musik betreffenden Artikel für die Enzyklopädie d’Alamberts und Diderots, aus denen er später ein eigenes Musiklexikon zusammenstellte. Er hielt die Harmonie gegenüber der Melodie für zweitrangig, verachtete den Sündenfall der Musikgeschichte, die nördliche „gotische Polyphonie“ mit ihrer Kontrapunktik, wollte das Moll-Geschlecht, die Dissonanzen und die überlappende Stimmführung möglichst vermieden haben und komponierte entsprechend simpel, oder „avec simplicité“ und „natürlich“, vielmehr (worauf es ihm besonders ankam): gesanglich. Ihm gelang aber mit seiner aus den venezianischen Tagen herrührenden Psalmodie nach einem Text von Torquato Tasso zumindest die Imitation eines tieftraurigen Lamentos, das er zusammen mit anderen Beispielen seiner geselligen Liedkompositionen ein Jahr vor seinem Tod unter dem Sammeltitel Consolations… zusammenstellte, die dann erst 1784 veröffentlicht wurden und im Weimarer Haus Goethes großes Gefallen auslösten. Zusammen mit vielen anderen von Jansen erwähnten und auf informative und schwärmerische Weise beschriebenen Werken und biografischen Umständen, geht das Porträt eines widersprüchlichen aber umtriebigen und für die europäische Musikentwicklung Ausschlag gebenden Künstlers und Theoretikers hervor, dessen Wirkung heute eher als verborgen und unbekannt zu betrachten ist. Dank des Reprints (dessen Preis für einen reinen Nachdruck der teilweise schlecht lesbaren Vorlage ohne weitere Erläuertungen saftig ist) ist es jetzt, in Ermangelung einer Darstellung aus heutiger Sicht, wieder möglich, sich von dieser unterschwelligen Tradition ein ungefähres Bild zu verschaffen.
Peter Sühring
Berlin 18.06.2012