Urbane Musikkultur. Berlin um 1800 / Hrsg. von Eduard Mutschelknauss – Hannover: Wehrhahn, 2011. – 393 S., Notenbsp./Abb. (Berliner Klassik. Eine Großstadtkultur um 1800; 18)
ISBN 978-3-86525-260-9 : € 34,00 (geb.)
Selten sind in einem Buch Barrieren für den Einstieg in ein Thema so hoch gelegt worden wie hier in der 26-seitigen Einleitung des Herausgebers. Eduard Mutschelknauss, der die in diesem Band dokumentierte Tagung aus dem Jahr 2007 konzipierte, will nun auch ihre Resultate in einer bewertenden Rückschau fixieren, gerät aber in Widerspruch zu der Offenheit und den Fragestellungen, die einzelne der folgenden Detailuntersuchungen durchaus bieten. Fast alle zukunftsträchtigen musikalischen Ereignisse der Zeit um 1800 in Berlin auf den Oberbegriff der Urbanität zuzuspitzen, ohne die Rolle des frühen Bürgertums und seinen erweiterten, aufgeklärten Bildungshorizont und seine ästhetischen Erfahrungen ausführlich zu berücksichtigen, erscheint etwas einseitig. Auch werden jene Momente, die von Hof und Kirche ausgehen und die Entwicklung hemmen sowie bei einigen Musikern ambivalente Haltungen erzeugen, kaum berücksichtigt. Was Mutschelknauss außerdem für verklausulierte Sätze baut, die einen zwingen, fast jeden von ihnen mindestens zweimal zu lesen, was für abstruse Fachbegriffe und Wortschöpfungen er bildet, die er wahrscheinlich für besonders wissenschaftlich hält, ist nicht gerade einladend zu lesen. Solch ein selbstverliebtes Verfahren verschleiert mehr als es erklärt.
Hinter dieser gespreizten Schreibweise verbirgt sich aber (wie meist) auch inhaltlich viel Zweifelhaftes und Falsches. Hier nur einige Winke. So wohltuend es ist, nach einer zum 300. Geburtstag Friedrich II. erlebten Huldigung von dessen Musikverständnis auch mal zu hören, wie rückständig es in Wirklichkeit war, so seltsam mutet es an, dass es dagegen keinen nennenswerten Widerstand gegeben haben soll. Die von Mutschelknauss heftig kritisierte Einführung eines durchaus musikgeschichtlich gemeinten Begriffs von „Berliner Klassik“ meinte aber entweder die lokal oder regional gültige Erzeugung von mustergültigen Verbindlichkeiten für den Musikgeschmack, der notfalls auch mit einer königlichen Kabinettsordre durchgesetzt wurde oder aber eine besonders plurale und liberale Gestaltung des Musiklebens. Mit einem hochtrabenden Vergleich zur „Wiener Klassik“ und ihren angeblich universellen Kompositionskonzepten, die auch Mutschelknauss nicht anzweifelt, kommt man da aber nicht weiter, weil die Einführung solcher Bezeichnungen wie „Londoner“ oder „Berliner Klassik“ gerade dazu dienen sollte, solche mit der Wiener Trias Haydn, Mozart, Beethoven verknüpften Ansprüche zu relativieren. Vollends unverständlich bleibt, warum Mutschelknauss die für die Berliner Musikverhältnisse nach der friderizianischen Periode in Anspruch genommene Urbanität als ausschlaggebendes Bewegungsmoment ausgerechnet für die Wiener Verhältnisse nicht in Betracht zieht. Und wenn schon das gesellig vorgetragene Lied für Berlin so charakteristisch gewesen ist, so müsste man es wohl mit den Liedproduktionen eines gewissen Rousseau in Paris und später eines Schubert in Wien am ehesten noch vergleichen.
Außer fragwürdigen, deduktiv gewonnenen Synthesen enthält der Tagungsband einige sehr gut recherchierte, aus Tatsachen induzierte Darstellungen und Interpretationen zu folgenden Themen: wie Johann Friedrich Reichardts (1752–1814) politische Gesinnung sich nicht nun gegen den preußischen Absolutismus und dessen Musikideale, sondern auch gegen die bonapartistische Selbstherrschaft und Eroberungspolitik wendete (Günter Hartung), wie sein bedeutsames Liedschaffen zu Texten von Goethe direkte Vorarbeit für den qualitativen Sprung zu Schuberts romantischem Kunstlied darstellte (Hans-Joachim Hinrichsen), welche entscheidende Rolle der Kapellmeister Bernhard Anselm Weber (1764–1821) für die entstehende urbane Musikkultur Berlins spielte (Karim Hassan), wie das gesellige Singen und Musizieren, das spannungsgeladene Verhältnis von Vokal- und Instrumentalmusik sich gestaltete und neue Lokalitäten für den Musikkonsum entstanden (Petra Wilhelmy-Dollinger, Walter Salmen, Günther Wagner, Ingeborg Allihn), welche Formen der Musikkritik sich entfalteten (Ulrich Tadday), wie Händel und Beethoven den Berlinern zu Ohren kamen (Hans-Günther Ottenberg, Helmut Loos), und mit welcher Sorgfalt Karl Friedrich Zelter (1758–1832) bei seinen Schiller-Vertonungen waltete (Helen Geyer) und wie er in der von ihm einberufenen Liedertafel schaltete (Friedhelm Brusniak). Auch ein von Student(inn)en der Humboldt-Universität zur gleichen Zeit konzipiertes und realisiertes Ausstellungskonzept über das Berliner Musikleben um 1800 wird dokumentiert. Der Ertrag dieser von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften getragenen Tagung ist also nicht zu unterschätzen.
Peter Sühring
Berlin 14.6.2012