Ulrich Drüner u. Georg Günther: Musik und „Drittes Reich“. Fallbeispiele 1910 bis 1960 zu Herkunft, Höhepunkt und Nachwirkungen des Nationalsozialismus in der Musik [Peter Sühring]

Drüner, Ulrich und Georg Günther: Musik und „Drittes Reich“. Fallbeispiele 1910 bis 1960 zu Herkunft, Höhepunkt und Nachwirkungen des Nationalsozialismus in der Musik – Wien: Böhlau, 2012. – 390 S.: Abb.
ISBN 978-3-205-78616-0 : € 49,00 (geb.)

Das „Dritte Reich“, das die Nationalsozialisten unter ihrem „Führer“ aufmachten, konnte seine Terrorherrschaft zwölf Jahre über Deutschland und seine Musikkultur und ab 1938 auch über Österreich und die Tschechoslowakei ausüben sowie ab 1939 über die eroberten Länder Europas. Es proklamierte, tausend Jahre währen zu können. Nun liegt eine äußerst begrüßenswerte Auswertung mehrerer hunderter Originaldokumente vor, die die Wirksamkeit des besagten Reiches auf ganze 50 Jahre ausdehnt, weil es sinnvoller Weise die Vor- und Nachgeschichte der kunstfeindlichen und mörderischen NS-Ideologie über die Zeit ihrer staatlichen Machtausübung hinaus mit einbezieht. Die Dokumente beschränken sich allerdings weitgehend auf die verheerende Wirkung im Innern des Reiches.
Es ist erstaunlich, was sich im deutschen Antiquariatsbuchhandel, auf dessen Fundus sich die beiden Autoren beziehen, an enthüllenden Dokumenten alles auffinden lässt – vorausgesetzt man ist aufmerksam und fängt an, gezielt zu sammeln und zu katalogisieren. Und so ist schon allein das angehängte Dokumenten- und Literaturverzeichnis, das die antiquarischen Quellen, deren sich die Autoren bedienten, aufführt, als eine große Fundgrube für die einschlägige Forschung zu betrachten. Man darf dieses Verzeichnis als eine ungeheure Erweiterung der Materialbasis für interessierte Forscher ansehen. In ihm werden insgesamt 537 Originaldokumente aufgelistet, die in Zukunft bei keinem Versuch, diese Zeit zu erfassen und zu interpretieren, umgangen werden können. Es gibt hier 124 handschriftliche und maschinenschriftliche Quellen, darunter Korrespondenzen von und an Erich Kerber (1891–1943), den damaligen Direktor der Wiener Staatsoper und solche von und an David Josef Bach (1874–1947), einen wichtigen Wiener Musikpublizisten jener Jahre. Des weiteren sind 214 Musikbücher, Zeitschriften und Broschüren erfasst, die einen tiefen Einblick in das Zentrum der nationalsozialistischen Propaganda gewähren. Schließlich werden noch 199 Musikdrucke genannt, die einen repräsentativen Querschnitt der offiziellen Musikproduktion und der verfemten und verfolgten Musik aus dem genannten Zeitraum geben. Darüber hinaus werden auf 24 Seiten (233–256) zahlreiche Abbildungen dieser Dokumente geboten, die entlarvenden und dokumentarischen Wert besitzen.
Aber die Autoren begnügen sich nicht mir einer Auflistung und graphischen Dokumentation ihrer Funde, etwa in Form einer handelsüblichen Broschüre, sondern sie bieten mit ihrem Buch eine glänzend recherchierte und kluge, rücksichtslose und politisch weitsichtige Auswertung dieser Dokumente, in welcher der bis vor den Ersten Weltkrieg zurückgehende Nährboden dieser denunziatorischen und eliminatorischen Kulturpropaganda sowie das ungenierte Weiterwirken ihrer Träger nach 1945 (also nach dem großen Zerstören und Morden) offengelegt werden. Bestimmte Publikationen dieser Antimodernisten und Antisemiten kann man nämlich heute nicht nur im geschützten, der Forschung zugänglichen Antiquariatsbuchhandel erhalten, sondern auch stapelweise in den so genannten Modernen Antiquariaten, wo die Schriften der Herren Hans-Joachim Moser und Herbert Gerigk wieder und weiter zu finden sind. Erfreulich ist an der Analyse von Drüner und Günther nebenbei, dass zwischen dem NS-Sprachgebrauch und der historisch zuverlässigen Darstellungsweise streng unterschieden wird. So wird hier beispielsweise das von den Nazis euphemistische gebrauchte Wort „Machtergreifung“ endlich einmal in die ihm gebührenden Anführungsstriche gesetzt, gab es doch in Wirklichkeit eine Machtübergabe und eine „Ermächtigung“ Hitlers und seiner Partei.
Das Buch führt wichtige Differenzierungen in die Diskussion über „Entartete Musik“ ein, beleuchtet intrikate persönliche Schicksale und räumt auch mit der Illusion auf, die Verwendung avantgardistischer musikalischer Techniken gehe stets mit politisch liberaler oder linker Gesinnung einher. Wer das ganze Syndrom der nationalsozialistischen Musikpolitik erfassen und verstehen will, ist in Zukunft auf dieses Buch als einem unverzichtbaren Baustein der Analyse angewiesen.

Peter Sühring
Berlin, 23.05.2012

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