Gielen, Michael: „Unbedingt Musik“. Erinnerungen. – Frankfurt/M. [u.a.]: Insel, 2005. – 366 S.: zahlr. Ill.; Discogr.
ISBN 3-458-17272-6 : € 19,80 (geb.); als Taschenbuch 2012: ISBN 978-3-458-35830-5 : € 11,99
Zu den herausragenden Musikern unserer Zeit, die sich der Verlockung des bloßen events entziehen, gehört der inzwischen 79-jährige Dirigent und Komponist Michael Gielen. Sein Erinnerungsbuch belegt aufs Neue, dass Musizieren und Intellektualität für ihn keine Gegensätze sind. Der Band besitzt eine Eigenschaft, die der Autor – mit Blick auf musikalische Interpretation – besonders schätzt: Deutlichkeit.
Das Buch umfasst zwei Teile. Der erste, umfangreichere Teil Erinnerungen ist im engeren Sinn autobiographisch, das letzte Drittel des Buches enthält Erfahrungen und Gedanken zu unterschiedlichen Themen: über das Dirigieren, das Orchester, über Unterricht und Interpretation, über Schreker („Franz Schreker – der Antipode Schönbergs?“), Berg („Lulu von Alban Berg“) und Mahler („Mahler und Musil“), schließlich über die eigenen Kompositionen. Und zuletzt ein Bekenntnis „Was ich heute liebe“: „Im Alter wird Bach für mich immer mehr zum zentralen Ereignis der tonalen Epoche. Ja, und dann ist da Mahler. Ich finde ihn deshalb so wichtig für uns, weil er die Konflikte unserer Zeit, die Zerrissenheit des Menschen, in einer Sprache ausdrückt, die dem Publikum verständlich ist.“ (S. 329)
Michael Gielen wurde 1927 in Dresden geboren. Der Vater, Josef Gielen, aus einer Kölner Handwerkerfamilie stammend, ist Schauspieler und Regisseur. Die Mutter, Rose Steuermann, eine Jüdin, kommt aus Polen; einer ihrer Brüder ist Eduard Steuermann. Die ältere Schwester heiratet Berthold Viertel. Über Berlin und Wien führt der Weg in die Emigration. Im Januar 1940 besteigen Mutter und Kinder den Nachtzug nach Triest, um sich von dort nach Argentinien einzuschiffen. Der Vater arbeitet schon als Regisseur am Teatro Colón in Buenos Aires. 1948 wird der Sohn Korrepetitor – er ist begabt, wie Erich Kleiber, sein „Idol“ und „Abgott“ (S. 67f), bemerkt. Der junge Gielen führt 1949 alle Solo-Klavierstücke Schönbergs auf. 1950 geht er zurück nach Europa, wohl wissend, dass er als Jude unter Mitläufern und Tätern leben wird. Er zieht nach Wien, wo der Vater Direktor des Burgtheaters ist. Die Dirigentenlaufbahn beginnt. Nach Jahren als Chefdirigent in Stockholm, Brüssel und Amsterdam wird Gielen musikalischer Leiter der Frankfurter Oper und führt die unvergessene Gielen-Ära herauf (1977–1987), geprägt von der Zusammenarbeit mit großen Regisseuren wie Neuenfels und Ruth Berghaus. Es folgen die Jahre beim Südwestfunk, in denen er mit Beethoven-, Mahler- und Bruckner-Symphonien hervortritt. Gielen ist ein Dirigent, bei dem Musik ungeteilt ist zwischen ‚alt‘ und ‚neu‘.
Trotz seiner argentinischen Jahre ist Gielen, der zwischen Katholizismus, Agnostizismus und Judentum pendelte, stark mitteleuropäisch geprägt. Der Leser lernt einen ‚linken‘ Pessimisten (oder muss man sagen: Realisten?) kennen, der sein Leben als Musiker erzählt und zu reflektieren weiß.
Leseprobe der Taschenbuchausgabe von 2012
Dietmar Schenk
Zuerst veröffentlicht in FM 27 (2006), S. 294f.
akt. 09.03.2019/jl