Robert Schumann in Endenich (1854–1856): Krankenakten, Briefzeugnisse und zeitgenössische Berichte / Hrsg. von der Akademie der Künste, Berlin, und der Robert-Schumann-Forschungsstelle, Düsseldorf, durch Bernhard R. Appel. Mit einem Vorw. von Aribert Reimann – Mainz [u.a.]: Schott, 2006 – 607 S. : 77 Abb. (Schumann Forschungen; 11)
ISBN 3-7957-0527-4 : € 34,95 (geb.)
Dieser für jede gehobene Musikbibliothek unerläßliche Band stellt die Beschäftigung mit Schumanns letzten beiden Lebensjahren, die er in der Irrenanstalt Endenich bei Bonn verbrachte, endlich auf sichere Füße. Alle heute greifbaren und relevanten Dokumente aus der Zeitspanne von Februar 1854 (Tagebuchnotiz Robert Schumanns vom 10. des Monats: „Abends sehr starke u. peinliche Gehöraff[ec]tion.“) bis zum abschließenden öffentlichen Bericht über Schumanns Krankheit und Tod von Seiten des behandelnden Nervenarztes und Besitzers der Endenicher Klinik, Dr. Franz Richarz, aus dem Jahre 1873 sind auf fast 400 Seiten nahezu ungekürzt wiedergegeben. Ob damit die zum Teil wilden Spekulationen und Unterstellungen, mit denen Schumanns letzte Lebensjahre in der Vergangenheit bedacht wurden, beendet werden können, wird sich zeigen; interpretationsbedürftig sind sie sicher.
In streng chronologischer Reihenfolge sind Robert und Claras Tagebuchnotizen, ihre Briefe sowie die ihrer Freunde (besonders die von Woldemar Bargiel, Joseph Joachim und Johannes Brahms, aber auch der die Kompetenz von Dr. Richarz anzweifelnde Brief von Bettine Arnim), Besuchsberichte, viele in diese Zeit fallende Zeitungsartikel über Schumann und seine Musik wiedergegeben. Nach einer äußerst sinnvollen Entscheidung des Herausgebers sind in diesen Kontext (mit einer editionsphilologisch sehr gelungenen Textkonstitution) die relativ schmalen Akten des sog. Krankenberichts eingelassen, der von den behandelnden Ärzten Dr. Richarz und seinem Assistenten Dr. Eberhard Peters verfaßt wurde und der sich heute als Dauerleihgabe aus dem Privatbesitz des Komponisten Aribert Reimann im Archiv der Berliner Akademie der Künste befindet. Der Krankenbericht besteht aus täglichen Kurzprotokollen über die Ernährung, die Medikation und das Verhalten des Patienten, aus denen auch hervorgeht, wie sehr Schumann unter den Folgen der Hospitalisierung litt. Der dokumentarische Teil endet mit dem kommentierten Abdruck des Obduktionsbefunds der Leiche Schumanns sowie der Berichte über die Bestattungsfeier und einiger Nekrologe.
In der sehr präzisen und vorsichtig formulierten längeren Einleitung gibt der Herausgeber B. R. Appel einen Einblick darin, wie schwierig eine angemessene Beurteilung dieser Dokumente ist, und er warnt vor weiteren voreiligen Schlüssen über einen positiv oder negativ akzentuierten Zusammenhang von Künstlerexistenz und Wahnsinn. In der Tat machen die Dokumente deutlich, wie bei Schumann nicht nur der Wahn in die Musikproduktion, sondern auch die künstlerische Vernunft in den Wahnzustand eingriff, und sie vergegenwärtigen, wie sehr Schumann selber in seinen letzten, zum Teil in Endenich redigierten Kompositionen eine künstlerische Darstellung und Reflexion seines immer stärker von Erinnerungen zehrenden und gestörten Zustandes anstrebte (z. B. in seinen „Gesängen der Frühe“ und seinen sog. „Geistervariationen“, beide für Klavier). Man könnte hier einen Vergleich mit dem kompositorischen Schicksal Bedrich Smetanas ziehen, dessen 2. Streichquartett einen ähnlichen Status hat.
Der Band wird ergänzt durch zwei medizinhistorische Stellungnahmen aus heutiger Sicht, einen umfangreichen und ausgiebig annotierten Abbildungsteil, ein annotiertes Personenregister und Literaturverzeichnisse. Der dokumentarische Wert des quellenerschließenden Teils und der analytische Wert des kommentierenden Teils ergeben zusammen ein vorzügliches Niveau der Edition. Das heikle Thema von Schumanns Krankheit zum Tode hat in dem Herausgeber den denkbar glücklichsten Sachwalter gefunden und könnte eine neue Ära der Schumann-Forschung eröffnen.
Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 27 (2006), S. 290f.