Drüner, Ulrich: Mozarts Große Reise: Sein Durchbruch zum Genie ; 1777 – 1779. – Köln [u.a.] : Böhlau, 2006. – 247 S. : Ill.
ISBN 3-412-34805-8 : € 24,90 (geb.)
Mozarts Reise in den Jahren 1777 bis 1779, die ihn von Salzburg über Mannheim nach Paris führte, gilt im allgemeinen als persönliches und berufliches Fiasko: die Mutter gestorben, die Träume von einer festen Anstellung geplatzt, Mozarts Wiederbegegnung mit seiner großen Liebe Aloysia Weber eine einzige Enttäuschung, magere kompositorische Bilanz. Gedemütigt und deprimiert sei Mozart nach Salzburg zurückgekehrt, um sich nach seines Vaters Fürsprache erneut unter das erzbischöfliche Joch zu begeben. Doch trifft dieses Bild tatsächlich zu? Nach Meinung des Stuttgarter Musikwissenschaftlers, Musikers und Antiquars Ulrich Drüner sind die Familienbriefe und andere Dokumente oft falsch interpretiert worden. So stimme z. B. schon die überlieferte Darstellung nicht, nach der Leopold beim Erzbischof um die Wiedereinstellung des Sohnes nachgesucht und dieser sie dem „starrsinnig seinem Dienst Entlaufenen“ (Erich Schenk) großzügig gewährt habe. Dabei sei es umgekehrt gewesen – der Salzburger Hof habe um Wolfgangs Wiedereintritt gebeten, weil er nach dem Tod Adlgassers dringend einen ersten Organisten brauchte.
Das Hauptaugenmerk Drüners aber gilt Mozarts psychologischer und künstlerischer Entwicklung. Selbst wenn diese Reise beruflich nur ein „mittlerer“ Erfolg war, so stellt sie nach Meinung des Autors die entscheidende Epoche in Mozarts Leben dar. Erst in der Ferne habe dieser sich emotional und künstlerisch von seinem übermächtigen Vater befreien können und ein neues Selbstbewusstsein als Komponist entwickelt. Dass dies nicht ohne psychische Blessuren abging, wird aus dem dramatischen Briefwechsel deutlich. Drüner analysiert die Kompositionen, die vor, während und nach dieser Reise entstanden sind, und kommt zu dem Schluss: „Mozart verließ Salzburg als ein Hochtalentierter– zurück aber kam er als ein Genie“ (S. 16). Auch das Diktum von der angeblich mageren kompositorischen Bilanz lässt er nicht gelten. Die Dichte an Werken, die heute zum Standardrepertoire zählen, habe sich in dieser Zeit im Vergleich zu den zehn vorangegangenen Jahren vervierfacht. Wäre Mozart vor Beginn der Reise verstorben, wäre er heute weniger bekannt als etwa Gluck. Drüner korrigiert überzeugend ein bisher nicht hinterfragtes Pauschalurteil und zeigt auf, wie sich während der Pariser Reise allmählich der „große Mozart“ der Wiener Jahre herausschält. Mit spannenden Exkursen über psychische Kompensations- und Kreativitätsprozesse sowie über Mozarts wenig geschickten Umgang mit Berufskollegen untermauert der Autor seine These. Eines sei jedoch noch angemerkt: Warum bemüht er in Zusammenhang mit Mozarts Beerdigung – wenn auch zwischen Anführungszeichen gesetzt – das längst widerlegte Klischee vom „Armengrab“ (S. 213)? Dieser Begriff sollte in einer seriösen Untersuchung nun wirklich nicht mehr auftauchen.
Verena Funtenberger
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 27 (2006), S. 281f.