Gitschmann, Vera: Epigonalität in der deutschen Orgelmusik des 19. Jahrhunderts. – Sinzig: Studio, 2010. – 304 S.: Ill., Notenbsp. (Berliner Musikstudien ; 31)
ISBN 978-3-89564-131-2 : € 42,00 (kart.)
Die Beschäftigung mit der Epigonalität deutscher romantischer Orgelmusik erscheint auf den ersten musikbibliothekarischen Blick hin zugegebenermaßen selbst schon epigonal. Befasst man sich jedoch intensiver mit der Materie, erweist sich, dass die vorliegende Dissertation eine wesentliche Lücke in der musikwissenschaftlichen Forschung schließt: Es ist die Zeit zwischen Bach und Reger, der in ihrer Bedeutung für die Orgelmusik jede schöpferische Originalität abgesprochen wurde und die dem Verdikt unterlag, von kompositorischem Verfall bei gleichzeitiger Nachahmung überkommener Stilmerkmale gekennzeichnet zu sein. Dieser Vorwurf zieht sich konstant durch die musikwissenschaftlichen Darstellungen bis in die Mitte der 1960er Jahre hinein – selbst Mendelssohn musste sich den Vorwurf des Epigonentums gefallen lassen. Dabei ist es gerade Mendelssohn, der mit der Gattung der romantischen Orgelsonate Maßstäbe für die weitere Entwicklung gesetzt hat. Als wegweisend für die Neuinterpretation deutscher romantischer Orgelmusik war für die Autorin der allgemein geisteswissenschaftliche Diskurs, der in seinem Fokus auf das 19. Jahrhundert neue Aspekte zu dessen Würdigung erschloss. Der erste Teil des Buches befasst sich denn auch mit grundlegenden Ausführungen zum Begriff der Epigonalität, zum gesellschaftlichen und kirchengeschichtlichen Hintergrund sowie zur Bedeutung gottesdienstlicher und kirchlicher Gebrauchsmusik. Im zweiten Teil hat sich die Autorin zum Ziel gesetzt, Vorurteile kritisch zu hinterfragen und „snobistische“, überhebliche Sichtweisen als nicht fundiert zu entlarven. Hier kommt der Rolle Mendelssohns eine zentrale Bedeutung zu: Ihm ist mit der romantischen Orgelsonate die Synthese der dreisätzigen Großform für den konzertanten Vortrag und der Einhaltung orgelgemäßer Schreibweise (Toccata, Chaconne, Fuge, Choral, Präludium usw.) auf geradezu vorbildliche Weise gelungen. Die Problemstellung der Formanlage der klassischen Sonatenhauptsatzform wurde von den Orgel-Komponisten des 19. Jahrhunderts als künstlerische Herausforderung begriffen und stilistisch und formal flexibel weiterentwickelt. In den anschließenden Analysen widmet sich Gitschmann größtenteils unbekannt gebliebenen Orgelwerken von Merkel, Töpfer, Fink, Stehle oder Gulbins, wobei sie gleichzeitig die Entwicklung von der Orgelsonate zur Sonatenfantasie schlüssig darstellt. Am Schluss ihrer Ausführungen steht die Adaption des Konzepts einer Art Programmmusik für Orgel hin zum symphonischen Orgelstil, das letztendlich auch für Max Reger wegweisend war. Die Auswahl der Werke und Notenbeispiele ist vorbildlich und macht das Anliegen des Buches nachvollziehbar. Für Wissenschaftliche Bibliotheken und solche an Musikhochschulen ist der Titel (trotz des Preises) eigentlich unverzichtbar!
Claudia Niebel
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 32 (2011), S. 67f.