Schrammek, Bernhard: Die Musikwelt der Klassik – Kassel: Bärenreiter, 2011. – 288 S.: Abb.
ISBN 978-3-7618-1784-1 : € 26,95 (kt.)
Kann man ein Buch über musikalische Klassik schreiben, in dem Franz Schubert nur zweimal nebenbei erwähnt wird (das eine Mal in Verbindung mit den in der katholischen Kirchenmusik in Wien aufkommenden deutschsprachigen „Singemessen“, das andere Mal in Verbindung mit dem Instrument Arpeggione)? Ja, man kann, und das kommt daher, dass trotz aller vom Autor selbst geäußerten Zweifel daran, ob es zulässig sei, einen solchen Begriff wie „Klassik“ als Epochenbegriff zu verwenden und obwohl er diverse Dilemmata aufzeigt, in die man kommt, wenn man diesen Begriff (verlegenheitshalber, notgedrungen, widerstrebend, in Ermangelung einer Alternative etc.) benutzt, er ihm selber mitunter auf den Leim gegangen oder in seine Falle gelaufen, seinen Tücken erlegen ist. Nur wenige Male hat der Musikpublizist Bernhard Schrammek bei seiner Darstellung der Musikwelt einer so genannten Klassik nicht genug aufgepasst, um den Fallstricken dieser Vieles nivellierenden Schablone zu entgehen. Ein Beispiel ist eben der Fall des Wiener Wirtshauskomponisten Franz Schubert, der nicht ungebrochen klassisch und zugleich auch romantisch veranlagt war, der aber in den klassifizierenden Kanon nur als Paria und Romantiker passt und deswegen halb absichtlich, halb aus Versehen „vergessen“ oder ganz säuberlich in einem kommenden Band „Die Musikwelt der Romantik“ erscheinen wird. Denn es steht zu befürchten, dass der Verlag die von Bernhard Morbach begonnene Reihe gnadenlos mit zwei weiteren Bänden über Romantik und Moderne fortsetzen und beenden will (wo aber bleibt die Musikwelt der Antike oder des Rests der Welt außerhalb Europas?).
Von einer etwas freieren Sicht auf die Musikgeschichte ist der Autor gar nicht weit entfernt, und seine Darstellung enthält unzählige erfrischende kritische Bemerkungen, Richtiges und Richtigstellendes, dass es eine Freude ist, ihm lesend zu folgen. Vieles ist hier ausgebreitet, was die Aufmerksamkeit für die gesellschaftlichen Umstände und Springquellen bestimmter musikalischer Gewohnheiten und ästhetischer Ideale beim damaligen, im Widerstand gegen Kirche und Adel sich aufschwingenden europäischen Bürgertum wecken und erhöhen kann. Denn der Autor ist musiksoziologisch geschult genug, um diese Komponenten nicht zu vernachlässigen. Wäre es nicht überhaupt möglich und besser, die klassisch-romantische Kunstperiode, in der bürgerliche Musiker mit Emphase darauf bestanden, dass Werken der Tonkunst ein idealer Sinn zugesprochen werden kann, auch als Musik des bürgerlichen Zeitalters oder des Idealismus zu bezeichnen? Etwas Klassisches, etwas, das mustergültig in Form und Inhalt dauerhaft bleiben sollte, wurde in allen Jahrhunderten der Musikgeschichte komponiert, auch Romantisches lässt sich im Medium der Musik als emotionales Surplus ihrer Wirkung schlecht vermeiden (schon im Mittelalter nicht). Aber beides zu verknüpfen und mit dem Etikett von künstlerisch verbürgtem Sinn und nachzuvollziehender Wahrheit zu versehen, ist ein ausgesprochen bürgerliches Phänomen, das kaum hundert Jahre ungebrochen Gültigkeit beanspruchen konnte – weshalb es ja auch so falsch wäre, alle nicht als klassisch kanonisierbare Musik nach Maßstäben wie der „thematischen Arbeit“ und anderer ästhetischer Ideale, die sich mit dem Begriff besonders der Wiener Klassik verbinden, zu be- oder zu verurteilen.
Das stete Bemühen um eine den buntscheckigen historischen Tatsachen gerecht werdende Ausgeglichenheit, um die idealistischen Konstruktionen des 19. Jahrhunderts in der Musikgeschichtsschreibung zu unterlaufen oder zu vermeiden, ist dem Buch überall anzumerken und führt zu groß angelegten Themenkomplexen und Kapiteln, die man in früheren konventionellen Darstellung einer musikalischen Klassik durchaus nicht finden konnte. So sind neben Wien, das mit 55 Seiten immer noch den Schwerpunkt bildet, immerhin auf weiteren 35 Seiten die anderen europäischen Musikmetropolen (Berlin, Leipzig, London, Neapel, Paris, Prag, Stockholm, St. Petersburg und Weimar) relativ ausführlich beschrieben. Und: Schrammek kennt sicher nicht nur auch die Musik eines gewissen Franz Schubert sehr gut, sondern er kennt auch sehr viel andere Musik außerhalb des klassischen Kanons und führt sie hier in Beispielen heran und vor (übrigens auch für Menschen, die keine Noten lesen können, denn solche kann man in diesem Buch nicht finden). Und dennoch sind es nicht viele Komponisten genug, als dass man nicht doch wieder diesen und jenen vermisste. Aber es ist schon ein großer Fortschritt, dass in diesem Buch Vater Bach nicht nur wie üblich drei, sondern vier komponierende Söhne hatte und der Bückeburger Johann Christoph Friedrich Bach einmal „auf Augenhöhe“ mit seinen Brüdern abgehandelt wird. Man vermisst neben der gebührend breit beschriebenen „Mannheimer Schule“ eine von damaligen Zeitgenossen (z. B. Chr. Fr. Daniel Schubart) gerade in Abgrenzung zu dieser so genannte Berliner und besonders die (Erste) „Wiener Schule“, deren Vertreter Wagenseil und Monn, hier einfach unter die Musiker der „Wiener Klassik“ subsumiert worden sind. Mit gehörigem Scharfsinn führt Schrammek solche Verlegenheitsbezeichnungen wie Vor- oder Frühklassik ad absurdum, handelte es sich bei dieser Musik der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang doch tatsächlich um frühromantische Strömungen, die wiederum zeigen, wie sehr das Streben nach klassischem und romantischem Ausdruck und Stil unter die einheitliche Vielfalt einer bürgerlichen Aufstiegsperiode zählt. Denn selbst bei dem berühmten Wiener Dreimännerkollegium Haydn, Mozart, Beethoven gab es etliche Brüche mit der klassischen Norm, die eher eine nachgetragene Erfindung des 19. Jahrhunderts zu sein scheint.
Das Buch ist kenntnisreich und mit Verve, gediegen, aber nicht ohne Leidenschaft und mit Interesse an Aufklärung geschrieben, es enthält im Rahmen der Gattungsbeschreibungen kurze konzise Werkdarstellungen, sinnfällig ausgesuchte Abbildungen, Anmerkungen, eine Liste der einführenden Primär- und Sekundärliteratur, sowie drei Register über vorkommende Personen, Orte und Sachen. Es ist in vielen erhellenden Details sehr aufschlussreich und selbst noch in den erwähnten kleinen Mängeln erkenntnisfördernd.
Peter Sühring
Berlin, 29.02.2012