Mahler-Handbuch / Hrsg. von Bernd Sponheuer und Wolfram Steinbeck. – Stuttgart: Metzler / Kassel: Bärenreiter, 2010. – XXX, 504 S.: s/w-Abb., Notenbsp.
ISBN 978-3-476-02277-6 (Bärenreiter) u. 978-3-7618-2051-3 (Metzler) : € 64,95 (geb.)
Unüberschaubar groß ist die Zahl der Veröffentlichungen zu Mahlers Leben und Werk. Mit 2.500 beziffert Sponheuer die Anzahl der Titel (S. 2), die allein die bereits 1988 erschienene dreibändige Mahler-Bibliografie von Namenwirth verzeichnete. Seitdem sind noch etliche neue Abhandlungen hinzugekommen. In Zeiten knapper Etats bleibt zu fragen, ob Anschaffungen weiterer Publikationen zu Mahlers Schaffen notwendig sind. Für das Mahler-Handbuch des bewährten Herausgeber-Duos lautet das Urteil: „Unverzichtbar“, es sollte in jeder Musikbibliothek vorhanden sein.
Die mit diesem Handbuch vorliegende Zusammenstellung von aktuellen, bestechend sachlich und klar argumentierenden sowie meist flüssig zu lesenden Einzelbetrachtungen der 22 überwiegend bereits bekannten Autoren macht das Buch zu einem wertvollen Fundus für jeden, der sich mit Mahlers Werk intensiver befassen möchte. Dabei kommt dem Leser der Druck in zwei Satzspalten sehr entgegen. Die jeweils im Anschluß an jeden einzelnen Beitrag gelisteten Literaturhinweise erleichtern es, aus dem Dickicht aller Publikationen wesentliche Literatur zu bestimmten Themenbereichen schnell aufzufinden. Das Handbuch versammelt Betrachtungen zu vier übergeordneten Bereichen: Zum Leben (hervorragend dargestellt von Jens Malte Fischer, ca. 45 S.), zu ästhetischen/kompositorischen Aspekten (ca. 90 S., 7 Beiträge), zu den einzelnen Werken (insgesamt ca. 250 S., 11 Beiträge) sowie zur Interpretation und Rezeption (ca. 75 S., 5 Beiträge). Gewichtiger Kern des Handbuches sind die Werkbetrachtungen, die wie üblich nach Liedern (Mathias Hansen) und Symphonien [Wolfram Steinbeck (1.–4.), Barbara Meier (5.), Siegfried Oechsle (6.), Martin Geck (7.), Peter Revers (8. und Lied von der Erde), Claudia Maurer Zenck (9.), Jörg Rothkamm (10.)] gegliedert wurden, gefolgt von einem Beitrag von Eike Feß (Mahler als Bearbeiter). Vorangestellt ist ein separates Kapitel von Eckhard Roch über die vor der 1. Symphonie vollendeten Werke.
Aufschlussreich sind die Darstellungen zur Interpretation und Rezeption, wobei zwei Kapitel (Juliane Wandel, Bernd Sponheuer) den Wandel in der Bewertung des Mahlerschen OEuvres sowohl der zeitgenössischen Kritik wie auch über das vergangene Jahrhundert hinweg sehr gut verständlich darstellen. Wolfgang Rathert erläutert in Kompositorische Mahler-Rezeption, welchen Einfluß Mahlers Werk auf die ihm nachfolgenden Komponistengenerationen hatte. Hartmut Heins Diskurs über Mahler Interpretation(en), zur Aufführungsgeschichte und Diskologie bietet eine Darstellung verschiedener Interpretationen im Konzertsaal und Studio bis in die 1980er Jahre. Für Empfehlungen zu aktuelleren Aufnahmen wird auf andere Quellen verwiesen. Albrecht Riethmüllers Mahler im Film erfasst weitaus mehr als nur die allseits bekannten Passagen aus Viscontis Tod in Venedig. Hier dürfte sich einem in der Filmmusik nicht allzu bewanderten Leser viel Neues erschließen.
Adolf Nowaks Beitrag über Mahlers geistige Welt vermittelt ein ideengeschichtliches Bild und gibt Aufschluß über den Musikbegriff Mahlers, über seine kompositorische Idee. Walter Werbecks Kapitel über Mahlers kompositorische Herkunft stellt eine musikgeschichtliche Einordnung des Komponisten wie auch der Gattungen Lied und Symphonie im Hinblick auf „das lange 19. Jahrhundert“ dar. Horst Webers Musik der Wiener Moderne beleuchtet ebenfalls musikgeschichtliche Hintergründe und beschreibt ästhetische Konzepte der Musik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit Charakter und Ton bei Mahler (Mathias Hansen) kommen Aspekte zur Sprache, die schon häufiger Gegenstand der Mahlerforschung waren. Anders allerdings Mahlers Orchesterklang (Peter Jost), zu dem bislang nicht allzu viel selbständige Literatur jüngeren Datums zu finden ist. Wertvolle Einblicke ermöglicht auch Peter Andraschkes Annäherung an Mahlers Schaffensprozeß, die sich hauptsächlich auf die Quellenforschung stützt. Tobias Janz’ Kapitel Über das Opernhafte von Mahlers Musik erörtert die Frage, welchen Einfluß die Oper als Kunstform auf Mahlers Werk hatte, und welche Opern Spuren in Mahlers Werken hinterlassen haben.
Bernd Sponheuers spannend zu lesende Einleitung führt zugleich sorgsam in die Problematik der „Zusammenschau“ ein. Ihr vorangestellt ist eine 19-seitige separate vierspaltige Zeittafel, in der schon allein durch den Umfang der Einträge in zwei verschiedenen Spalten anschaulich wird, wie sehr sich der Schwerpunkt vom Dirigenten Mahler zum Komponisten Mahler in dessen letzten Lebensjahren verschoben hat. Ein systematisches Werkverzeichnis sowie ein Namenregister und ein Werkregister runden das Handbuch ab. Auch ein Verzeichnis der 22 Autorinnen und Autoren fehlt nicht. Insgesamt ein wirklich außerordentlich gelungenes, beeindruckendes, übersichtlich gegliedertes Handbuch, dem man allerdings einen etwas stärkeren, stabileren Einband gewünscht hätte. Für eine Folgeauflage sollte noch die Seitenzahlangabe im Inhaltsverzeichnis entsprechend der tatsächlichen Seitenzahlen im Kapitel Leben korrigiert werden.
Eva Tiemann
Zuerst veröffentlich in FORUMMUSIKBIBLIOTHEK 32 (2011), S. 62f.