Dähn, Christine: Karat. Über sieben Brücken musst du gehn. – Berlin: Neues Leben, 2010. – 381 S.: zahlr. Ill. (teilw. farb.)
ISBN 978-3-355-01768-8 : € 19,95 (geb.)
Kürzlich wurde ein wenig musikalisch ambitionierter 16-Jähriger aus meinem Bekanntenkreis gefragt, ob er ein Lied singen könne. Das tat er zu unserer Überraschung prompt und nicht einmal schlecht mit dem Hit Über sieben Brücken musst du gehen der DDR- bzw. Ostrock-Band Karat. Die DDR-Rockballade aus dem Jahr 1978 hat er als „Pflichtstück“ im Musikunterricht gelernt. In der Bundesrepublik wurde der Song erst 1980 in der Interpretation von Peter Maffay bekannt, der dem Lied zu deutschlandweitem Erfolg verhalf. Zum 35-jährigen Bandjubiläum im Jahr 2010 verfasste Christine Dähn, ehemalige Moderatorin beim Jugendprogramm des DDR-Rundfunks DT 64 (gegründet anlässlich des Ostberliner Deutschlandtreffens der Jugend 1964), die erste ausführliche Bandbiografie. Dieser gingen zwei kürzere von anderen Autoren in den Jubiläumsjahren 1985 und 1995 voraus. Mit Dähn hat die Band eine profunde Kennerin der DDR-Rockmusik als Biografin, die erst 2008 die Biografie des DDR-bekannten Popmusikers, Pianisten und Komponisten Thomas Natschinski (Sohn des Musical- und Filmkomponisten Gerd Natschinski) veröffentlichte, der übrigens von 1981 bis 1984 Keyboarder bei Karat war. Karat zählte neben den Bands Puhdys, City, Silly u. a. zu den führenden in der DDR und konnte schon einige Jahre vor dem Mauerfall Auftritte in der Bundesrepublik absolvieren, die aber in den DDR-Medien verschwiegen wurden, um nicht zu viele Nachahmer zu produzieren.
Die Hauptkapitel des Buches sind Erlebnisberichte der einzelnen Musiker, die ausführlich mit Beschreibungen persönlicher Erfahrungen, Erinnerungen, Meinungen und Eindrücke gefüllt sind. Im ersten Kapitel erzählt Claudius Dreilich, Sohn des legendären Bandsängers Herbert Dreilich, über sich, seine Familie und seinen Vater. Auch die folgenden Beiträge des Schlagzeugers Micha Schwandt, der Keyboarder Martin Becker und Ed Swillms (Komponist von Über sieben Brücken), des Bassisten Christian Liebig, der Managerin Adele Walther und des Gitarristen Bernd Römer sind typische DDR-Rockmusikerbiografien, die es wert sind, aufgeschrieben zu werden, weil sie alle ein Stück DDR-Geschichte darstellen und mit zunehmendem zeitlichen Abstand zu dieser Epoche nicht vergessen werden sollten. Viele für uns heute selbstverständliche Dinge arteten damals in existenzielle Schwierigkeiten aus, und einige Abnormalitäten dürften älteren oder nachfolgenden Generation ohne DDR-Vergangenheit einfach unglaublich erscheinen. Die Erinnerungen bilden eine recht beachtliche Themenvielfalt, die von Beschaffungsschwierigkeiten elektronischer Musikinstrumente und Transportmittel, West-Ost-Instrumentenschmuggel, horrenden Umtauschkursen zur West-Mark, alternativloser DDR-Wehrpflicht, Versorgungsproblemen aller Art, Reiseverboten, unzureichenden Telefonanschlüssen, der Stellung der Rockmusiker als Freiberufler, der Wohnungsknappheit, den politischen Repressalien usw. reicht und nicht der DDR-Nostalgie anheim fallen sollte. Damit bietet sich ein Blick auf die finanzielle, technische, wirtschaftliche und kulturpolitische Situation von Rock-Bands in der DDR, die selbst vor Spitzenbands wie Karat nicht Halt machte, und der die damals erbrachten Leistungen gebührend beleuchtet. Die Musiker beschreiben die markanten Punkte der Bandbiografie, wie die Gründung auf Initiative von Henning Protzmann (Bassist der Jazzrock-Fusion-Band Panta Rhei mit Veronika Fischer), den Erfolg in der DDR, die wechselnden Bandbesetzungen, die Bedeutung des Mastermind und Leadsängers Herbert Dreilich, den Popularitätseinbruch nach dem Ende der DDR, den Tod von Herbert Dreilich und den Streit um die Namensrechte mit zwischenzeitlichem Namen K…!. Die Reihe der Erlebnisberichte wird mit „Grußworten“ von Peter Maffay, dem Über sieben Brücken-Textdichter Helmut Richter oder Karat-Fan und Gentlemanboxer Henry Maske aufgelockert.
Das Hardcover-Buch enthält viele zum Teil auch persönliche Fotos, die nicht immer mit Bildunterschriften versehen sind. Eine Übersicht zur aktuellen Besetzung und mit den Namen aller Ex-Mitglieder trägt zum besseren Verständnis der Erzählungen bei. Die recht beachtliche Karat-Diskografie fehlt. Als Ergänzung zum Buch eignet sich natürlich neben der aktuellen CD Weitergehn die DVD Karat – live aus der Alten Oper in Erfurt oder die 14-CD-Box Ich liebe jede Stunde mit den 13 Original-Alben als Jubiläums-Edition 35 Jahre Karat.
Stefan Domes
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 32 (2011), S. 85 f.