Reynolds, Anthony: Leonard Cohen. Ein aussergewöhnliches Leben / Aus d. Engl. übers. von Marion Ahl – Berlin: Bosworth, 2011. – 357 S.: Abb.
ISBN 978-3-86543-649-8 : € 24,95 (kt.)
Den „Old Ideas“, die Leonard Cohen (*1934) meint und denen er sein kürzlich erschienenes Album gewidmet hat, kann man vielleicht am besten in einem Rückblick auf dessen Leben auf die Spur kommen. Seine eigenen Erinnerungen daran sind in ihm so tief abgesackt, dass Cohen sie nun nur noch im Bass singend wiederbeleben kann. Wenn einer uns aufklären kann über den Ursprung von Cohens zu Songs geworden Lebensthemen und ‑erfahrungen, dann ist es Anthony Reynolds, der sehr akribisch die Entwicklung dieses bemerkenswerten Künstlerlebens recherchiert und aufgeschrieben hat.
Wenn ein seelenverwandter Künstler die Biografie eines seiner Idole schreibt – so wie der Sänger und Lyriker Anthony Reynolds die Leonard Cohens –, befürchtet man erst mal Schlimmes. Aber außer dem, was in diesem Genre quasi branchenüblich und unvermeidlich ist an blumigen und sentimentalen Formulierungen, gibt es in dieser Biografie kaum peinliche Stellen. Und das will etwas heißen bei einem Künstler wie Cohen, dessen Art, sich zu inszenieren, das Fan-Gebaren geradezu provoziert. Mit seinem persönlich gehaltenen Prolog wählt Reynolds einen etwas eitlen Einstieg: Sein Versuch, Cohen während dessen Auftritts in Valencia im Jahre 2009 back stage näher zu kommen, scheitert, er wird nur Zeuge eines Zusammenbruch seines Idols auf offener Bühne.
Sicher, Reynolds verehrt und bewundert Cohen, aber er führt sich nicht wie ein blind-faszinierter, kritikloser Anhänger auf, sondern versucht Cohen zu verstehen, dabei auch seine dunklen und rätselhaften Seiten gelten zu lassen. Es ist, obwohl Reynolds auch nichts anderes zu Gebote stand, als nachträglich und von außen Quellen und Zeugen über Cohen Leben und seine Ansichten und seine Produktionen zu sammeln und zu interpretieren, fast eine innere Biografie, die viel über Beweggründe und Antriebe Cohen zu entschlüsseln weiß. Denn es gab einen unbekannten Cohen vor dem Star Cohen und es gibt einen inneren Cohen, von dem der öffentliche nur ein matter Widerschein ist. Reynolds versucht, unter die äußere Oberfläche zu dringen, indem er den Selbstäußerungen Cohen genau zuhört und neue Dimensionen abgewinnt, und er hat alle Musiker und Produzenten, die jemals mit Cohen zu tun hatten, genau studiert und befragt und zitiert alles eifrig.
Der Kindheit und Jugend in Montreal, dem langsamen Erwachen der poetischen Leidenschaft innerhalb der Beat-Generation, der späten Geburt des Musikers aus dem Geist des Gedichts, das immer mehr zum Song wird, dem langen Weg vom Lyriker und Romancier zum Sänger mit unkonventionellem Gitarrenspiel und brüchiger Stimme, dem zögernden und linkischen, mit Selbstzweifeln gepflasterten Weg bis zum Einstieg in die Popszene widmet Reynolds breiten Raum. Nach dem Durchbruch dann erzählt dieses Buch die Entstehung jedes einzelnen Albums in all seinen Facetten und Umständen, mit den vielen kleinen Siegen und Niederlagen auch ganz praktischer Art. Eine von sex, drugs and politics gefangen genommene, von Sanftmut und Melancholie gefiltert Seele, die ihre sublimierte Zurschaustellung im Rahmen der Popkultur braucht, um lebensfähig zu bleiben, kommt allmählich in den Blick und wird sogar sympathisch.
Abgesehen von kleineren Dingen, die Reynolds nicht so richtig versteht und benennen kann – dazu zählen auch bestimmte Umstände von Cohens Judentum – kann man sich auf ihn verlassen und sich seinem ruhigen, unaufgeregten, kenntnisreichen und manchmal sogar humorvollen Erzählfluss anvertrauen.
Peter Sühring
Berlin, 12.02.2012