Graf, Christian und Burghard Rausch: Rockmusiklexikon. Europa. – 2 Bde. – Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2005. – 1679 S.
ISBN 3-596-16428-1 (Bd 1); 3-596-16429-X (Bd 2); je € 12,90 (kt.)
1986 veröffentlichte Christian Graf bei Taurus Press erstmals das Rockmusiklexikon, das sich in vier Bänden den bekanntesten und stilbildendsten Künstlern und Bands aus Europa und Übersee widmete. Zehn Jahre später (1996) fand die kleine Reihe eine Neuauflage, dieses Mal beim Fischer Taschenbuch Verlag. Das Grundkonzept wurde beibehalten, für die beiden Europa-Bände holte sich Graf jedoch Unterstützung von dem Rundfunk-Kollegen Burghard Rausch. Eine weitere knappe Dekade später (2005) legen die beiden Autoren nun die erweiterte Ausgabe vor.
Das Rockmusiklexikon gehört – in welcher Ausgabe auch immer – zweifelsohne zu den Standardwerken unter den Popmusik-Lexika und wird sich in vielen Bibliotheken die Regalbretter brüderlich mit Graves’ und Schmidt-Joos’ Rock-Lexikon bzw. Laufenbergs Rock- und Pop-Lexikon teilen. Der Lorbeeren können sich Autoren und Verlag also sicher sein. Trotzdem aber tauchen bei der Lektüre einige Fragen auf, bei deren Beantwortung die anfängliche literatur-genealogische Betrachtung Hilfestellung leisten kann.
Tun wir einfach mal so, als ob wir einen der beiden Bände an beliebiger Stelle öffnen und beim Artikel über George Harrison landen würden. Die Beschreibung des Musikers entspricht den gängigen Vorstellungen, am Ende des Textes aber steht ein Live-Album, das uns solchermaßen die irdische Existenz Harrisons versichert und seinen Tod Ende 2001 als bösen Traum entlarvt. Vorgeblättert zu Phil Collins sind wir auch hier freudig überrascht, kein Wort über dessen Abschiedstournee zu erfahren. Die aufbauende Wirkung dieser Zeilen soll sogleich am Artikel über Robert Palmer überprüft werden, der sicherlich auch nur gerüchteweise gestorben ist. Palmers Ableben im Jahr 2003 aber wird zur traurigen Gewissheit und lässt uns Leser etwas ratlos zurück. Ein Blick ins Vorwort bringt dann gewisse Erleuchtung: „Das Manuskript wurde am 31. März 1994 abgeschlossen“ (S. XV). In der schnelllebigen Rockmusik, in der selbst stilbildende Künstler nur wenige Jahre brauchen, um sich Ewigkeitswert zuzulegen, erscheint ein Zeitraum von 11 Jahren zwischen Redaktionsschluss und Veröffentlichung doch etwas zu lang. Dies festgestellt, ist man als Leser ob Robert Palmers Tod trotzdem irritiert und fragt sich zudem, warum den Titel des zweiten Europa-Bandes Robbie Williams ziert, der 1994 kurz vor seinem Austritt aus der musikalischen Früherziehung von Take That stand und erst Jahre später zum größten Entertainer aller Zeiten mutierte. Anschließen könnte man sogleich die Überlegung, warum letztgenannter Künstler nicht auf Anhieb zwischen Kim Wilde und Steve Winwood zu finden ist, sondern erst weit hinter den Zombies … Des Rätsels Lösung liegt darin, dass der Verlag zwar eine „erweiterte Neuausgabe“ veröffentlicht hat, wie er auf der Buchrückseite vermerkt, die Aktualisierungen bestehender Artikel jedoch nicht konsequent durchgeführt worden sind. Außerdem werden neu hinzugekommene Artikel (wie etwa der erwähnte über Robbie Williams) nicht in den vorhandenen Text integriert, sondern als Nachträge hintenangestellt.
Das Aktualisierungskonzept wird leider nicht kommuniziert. So enden viele Biografien bekannter und immer noch aktiver Künstler (David Bowie, Elton John) Mitte der 1990er Jahre, andere Texte blicken sogar in die Zukunft (Hinweis auf eine 2006 stattfindende Welttournee der Rolling Stones).
Abgesehen von dieser Aktualisierungsproblematik bieten die Texte eine Fülle von Informationen, die in bekannt gut lesbarer Form dargeboten werden. Die Artikel beginnen teilweise mit Abschnitten, in denen Werk und Bedeutung des jeweiligen Künstlers zusammengefasst werden, und geben dann die Karriere in chronologischer Form wieder. Bei Bands ist dem Text eine Besetzungsliste vorangestellt, wobei das jeweils aktuelle Line-up genannt wird (deshalb findet sich bei den Stones zwar Ron Wood, nicht aber die Gründungsmitglieder Brian Jones und Bill Wyman). Abgeschlossen werden die Texte mit einer Auswahldiskografie, bestehend aus Titel, Jahr, Verlag und Bestellnummer. Nicht berücksichtigt wurden hier leider DVD-Veröffentlichungen, obwohl dieses Format in den Werkschauen der Künstler immer wichtiger wird (so hat 2003 erstmals eine DVD, nämlich Grönemeyers „Mensch Live“, deren CDPendant im entsprechenden Text erwähnt wird, den Spitzenplatz in den offiziellen Album-Charts belegt). Als Quellenmaterial nutzen Graf und Rausch überwiegend Informationen der Schallplattenindustrie und internationale Presseberichte. Dementsprechend häufig tauchen Zitate aus Rock-Magazinen auf, ein Stilmittel, mit dem die Autoren zugleich Distanz und Authentizität demonstrieren. Erfreulich ist auch der durchgängig faktenreiche, zugleich aber treffend charakterisierende journalistische Ton. Graf und Rausch kennen die Klischees der Rockmusikschreibung, sind aber auch in der Lage – wie etwa in dem Artikel über Paul McCartney – ernst zu nehmende Meinungen abseits vom Kanon zu formulieren.
Ein erfreulicher Pluspunkt des Rockmusiklexikons ist die ausführliche Länge vieler Beiträge. Bei rund 800 genannten Interpreten und über 1.600 Seiten Länge ergibt sich eine durchschnittliche Artikellänge von zwei Seiten. Berücksichtigt man jetzt noch die topografische Beschränkung auf Europa, so bieten die Autoren eine Informationsfülle, die klar über das Stadium eines Einsteigerwissens hinausgeht. Das wird besonders bei den Beiträgen deutlich, deren Protagonisten den Autoren wohl besonders am Herzen liegen (Rolling Stones: 17 Seiten). Wie bei jedem Lexikon kann die Auswahl der enthaltenen Künstler letztendlich nur subjektiv geschehen. Graf und Rausch nennen zwar Kriterien, an denen sie sich orientiert haben (Bekanntheitsgrad, Stilvorlagen, Chartnotierungen), doch wird es an den Rändern dieser Definitionsgrenzen immer Diskussionsbedarf geben. Beispielsweise den, dass die Mehrzahl der besprochenen Künstler aus dem englischsprachigen Raum kommt. Zwar entspricht dies den Größenverhältnissen auf dem europäischen Musikmarkt, doch hätten dem Lexikon auch mehr französische, italienische oder spanische Vertreter gut getan. Aus deutscher Sicht kann man diesbezüglich noch zufrieden sein, findet man doch mit Wir sind Helden, Rammstein, Udo Lindenberg und etlichen anderen Künstlern einen guten Querschnitt durch die hiesige Musikszene vor.
Die Bände schließen mit einem ausführlichen Register und zwei Seiten Nachrufen (zumindest hier ist George Harrison mit seinem Todesdatum verzeichnet). Das grundlegende Aktualisierungsproblem und kleinere redaktionelle Unsauberkeiten (Großenkneten, die Heimatstadt von Trio liegt nicht in Ostfriesland, S. 1353; die Sängerin von Bow Wow Wow wird im gleichen Artikel „Lu Win“ und „Luwin“ genannt, S. 172) sprechen gegen eine klare Kaufempfehlung (zumindest für diejenigen, die noch keine frühere Ausgabe im Schrank stehen haben), sollte aber Anreiz für Verlag und Autoren sein, möglichst schnell eine echte aktualisierte Neuauflage zu veröffentlichen. Der Dank vieler Fans und auch Popmusikologen wäre ihnen gewiss.
Michael Stapper
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 26 (2005), S. 464ff.