Beyer, Regine: Abendkleid und Filzstiefel. Die Jazzpianistin und Diseuse Peggy Stone. – Berlin: AvivA, 2010 – 430 S.: s/w-Abb.
ISBN 978-3932338427 : € 24,80 (geb.)
Peggy wer? Peggy Stone?! Zugegeben, den Namen dürften die wenigsten von uns kennen. Keine Sorge, das Buch Abendkleid und Filzstiefel von Regine Beyer schafft vortrefflich Abhilfe. Doch wer war diese Frau, die ein stattliches Alter von über 100 Jahren erreichte und damit beinahe noch Johannes Heesters übertrumpfte?
Autorin und Journalistin Beyer zeichnet auf packende Weise das bewegte Leben der Jazzpianistin und Diseuse vom schelmischen Mädchen Rosa Goldstein, genannt „Röschen“, zur selbstbewussten Künstlerin Peggy Stone (1907-2009) nach. Aufgewachsen in Berlin und Bialystok, gründet sie in den 20er-Jahren zusammen mit ihrer Freundin Laelia Rivlin das Jazz-Piano-Duo „Lil und Peggy Stone“. Sie treten erfolgreich auf, die Idylle hält aber nicht lange. Während des Zweiten Weltkriegs muss sich Peggy als Sängerin für die Rote Armee durchschlagen. Sie erfährt Kälte, Hunger und Not, rappelt sich jedoch immer wieder auf. Auch mit der Männerwelt scheint sie kein Glück zu haben. Obwohl die dunkelhaarige Schönheit die Herren scharenweise bezirzt, begegnet sie erst mit ihrem dritten Ehemann, dem Geiger Hermann Hönigsberg, der großen Liebe.
Orte und Begegnungen, angefangen vom angenehmen Luxus in der reichen jüdischen Bourgeoisie bis zu den schweren Zeiten der 30-er Jahre nach der Weltwirtschaftskrise, und nicht zuletzt die Folgen des Holocaust durchleben die Leser hautnah. Obwohl sie Jüdin ist, fällt Peggy nicht den Nazis zum Opfer, was sie auch ihrem Dasein als Künstlerin und den daraus entstehenden Kontakten zu verdanken hat. Ihre Geschichte führt von Sibirien nach Bukarest über Tel Aviv und schließlich nach New York, wo sie ihre andere kreative Ader, die bildende Kunst, auslebt und zum Beruf macht.
Zum Schluss wird die Autorin selbst zur Protagonistin und holt den Leser direkt ins Wohnzimmer der 99-Jährigen, die sie kurz vor ihrem Tod selbst kennenlernen darf. Sie werden Freundinnen. Schließlich nimmt Regine Beyer die einsame Künstlerin mit auf einen Kurztrip nach Berlin zu ihren Wurzeln. Dies verleiht der Erzählung nicht nur einen ergreifend persönlichen Touch, sondern verhilft der Diseuse auf ihre alten Tage noch einmal zu dem Ruhm – wenn auch nur im Kleinen –, den sie verdient hat. Ihr Anliegen, die offene und kreative Einstellung zum Leben Peggy Stones’ zu bewahren und weiterzugeben, hat die Autorin mehr als erfüllt. Warum sie gerade dieses Schicksal gewählt hat? „Weil sich in Peggys Leben ein Jahrhundert spiegelt. Weil es nicht nur der Stars bedarf, Geschichte lebendig zu machen, sondern mehr noch derer aus der zweiten Reihe, um Wissen zu vertiefen und Forschungsfelder zu erweitern“ (Epilog, S. 389).
Abendkleid und Filzstiefel ist mit zahlreichen Abbildungen gespickt: persönlichen Erlebnissen, Urkunden und spannenden Zeitzeugnissen, die das Umfeld der durchlebten Ära widerspiegeln. Für Wissbegierige enthält das gut recherchierte Buch ein Personenverzeichnis und ausführliche Anmerkungen. In die Erzählungen eingeflochten sind – kursiv gesetzt – Peggys eigene Rückblicke und spannende Stummfilmmelodrame im Zeitraffer mit Kopfkinogarantie. So bewegt, wie das Leben der Peggy Stone war, ist auch diese Biografie. Keine Minute langweilig.
Rebecca Berg
Frankfurt, den 13.1.2012