Renée Fleming: Die Biografie meiner Stimme

Fleming, Renée: Die Biografie meiner Stimme. / Aus dem Amerik. v. Isabell Lorenz. – Berlin: Henschel, 2005. – 269 S.
ISBN 3-89487-515-1: € 22,90 (geb.)

Immer häufiger wagen sich junge und jugendliche Spitzenstars mit mehr oder weniger gelungenen Selbstporträts und frühzeitigen Lebenserinnerungen auf den Büchermarkt. Oft magnetisiert allein ein prominenter Name, während fachliche oder literarische Substanz zwischen den Zeilen zu versickern droht. Von höherem, ja außergewöhnlichem Kaliber ist dagegen der Beitrag der amerikanischen Sopranistin Renée Fleming, Jahrgang 1959, die von ihrem Manager Alec Treuhaft überzeugt wurde, dass sie gerade jetzt viel mitzuteilen habe. Und überzeugt wird auch der Leser feststellen, wieviel Sach-, Metier- und Menschenkenntnis, Differenziertheit der Reflexion, wieviel Intelligenz und Einfühlungsvermögen in eine Darstellung eingeflossen sind, die neben allem Facettenreichtum erkennbar im Genre der flüssig und bilderreich erzählten, leger arrangierten, von Herz und Humor inspirierten, tief persönlich gefärbten Autobiographie verbleibt.
In der Einleitungsepisode über ihren Auftritt in einer St. Petersburger Galavorstellung schildert Fleming einen Moment, der zum Innehalten und Nachdenken darüber führt, wie ein Mädchen aus Churchville, New York, eines Tages zur Vertreterin ihres Landes bei Großereignissen der internationalen Musikszene avancieren kann. Ergebnis: in ihrem Fall allein dank ihrer Stimme. Zudem habe sie am Beginn ihrer Laufbahn in den Memoiren großer Sängergestalten nach fundierten Informationen zum Gesangstechnischen und -praktischen geforscht – doch ohne Erfolg. Angesichts ihrer Berufung sei ihr also nun bewusst geworden, dass nur sie selbst ein derartiges Buch schreiben könne, einen Leitfaden für angehende Fachkollegen, sprich Die Biografie meiner Stimme. Deren roter Faden verläuft zunächst entlang der Lebenschronologie. Das Kapitel „Die Familie“ verlebendigt Renées Kindheit und Jugendjahre in Rochester und Churchville, den bestimmenden Einfluss ihres hochmusikalischen, als Gesangslehrer aktiven Elternpaars sowie ihren notorischen Ehrgeiz in Schule und Musizieren. Unter „Ausbildung“ folgen Studienzeiten – noch mit Schwerpunkt Musikerziehung – an der Crane School of Music im amerikanischen Potsdam bei der Gesangspädagogin Patricia Misslin, flankiert von Jazzambitionen und ersten Festivalerfahrungen. Ob hier oder im Kapitel „Lehrjahre“ über die weitere Ausbildung an der Juilliard School primär unter Flemings prägendster Lehrerin Beverly Johnson – Wissenswertes und Überraschendes halten das Interesse wach: Plastisch gezeichnete Fremd- und Selbstcharakterisierungen stehen neben detaillierten, nirgends schulmeisterlichen Lektionen über Gesangstechnik und Stimmbildung einschließlich individueller Ansätze wie den bei Arleen Augér im Rahmen eines Fulbright-Stipendiums oder bei Elisabeth Schwarzkopf erlernten sowie den von berühmten Kolleginnen privat mitgeteilten. Pragmatische Überlegungen zu Repertoire- und Rollenwahl verbinden sich mit subtil erinnerten Schlüsselmomenten der Selbsterkenntnis sowie der künstlerischen und persönlichen Reifung. Mit desillusionierender Ehrlichkeit zu sich selbst und zum Leser redet Fleming Tacheles, konterkariert das Klischee der allürenhaften, vom Ruhm verwöhnten Diva, nennt sich eine dauerhafte Schülerin, analysiert unumwunden ihre zermürbenden Kämpfe gegen Lampenfieber und Konkurrenzdruck, gibt Einblicke in Lebenskrisen wie Vorsing-Debakel oder die Scheidung von ihrem Ehemann Rick Ross und betont mehrfach, dass bei allem Kunst- und Berufsethos ihre Töchter Amelia und Sage stets an erster Stelle stehen.
Jener Duktus des unmittelbar subjektiv empfundenen, emotional gelenkten Berichtens endet keineswegs auf S. 125 mit dem Kapitel „Erfolg“ und den ersten Höhepunkten etwa als Mozarts Figaro-Gräfin in Houston, Paris und New York. In anhaltender Intensität beherrscht er gleichermaßen die Kapitel ab ca. Buchmitte, deren inhaltliche Akzente nunmehr auf die vielfältigen Einzelaspekte eines Daseins als „in erster Linie Musikerin im Klassikbereich“ (S. 155) abzielen. Ein reicher, exemplarischer Erfahrungsschatz klärt den Interessenten auf und gibt potenziellen Nacheiferern viel Bedenkenswertes mit auf den Weg: „Geschäftliches“ etwa über Fragen von Know-how, Management und Organisation eines Opern-, Lied- und Konzert- resp. Schallplatten-Repertoires, „Langlebigkeit“ über Stimmpflege, „Das Image“ über äußere Formen und adäquate Selbstdarstellung, „Auftritte“ über die Beziehung zum Publikum, „Rollen“ über spezielle Gestaltungen von Opernpartien aus Sicht einer neben Mozart/Strauss-Präferenzen stets entdeckungsfreudigen Interpretin, „Hinter den Kulissen“ über den Backstagebetrieb am Beispiel einer Traviata an der Met. Ob der Verzicht auf Diskographie, Bibliographie und Personenverzeichnis der noch dauernden Komplettierung von Flemings Lebenswerk geschuldet ist?

Andreas Vollberg
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 26 (2005), S. 462ff.

 

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