Rüdiger Jennert: Paul Hindeminth und die Neue Welt. Studien zur amerikanischen Hindeminth-Rezeption.

Jennert, Rüdiger: Paul Hindemith und die Neue Welt. Studien zur amerikanischen Hindemith-Rezeption. – Tutzing: Hans Schneider, 2005. – 346 S. : Tabellen, Graphiken, Notenbeisp., 1 CD-Rom. (Würzburger musikhistorische Beiträge, Bd. 26; zugl.: Würzburg, Univ., Diss., 2003/2004.)
ISBN 3-7952-1181-6 : € 68,00 (geb.)

Emigrantenschicksale europäischer Geistesgrößen in den USA verdrängen oftmals die Wahrnehmung eines weiträumigeren, vielschichtigeren Hintergrundes: der Wechselbeziehung zwischen Individuen und der Neuen Welt als soziokulturellem Wirkungsraum. Ist es doch nicht nur das eigenhändige, persönliche Agieren innerhalb der Exiljahre vor Ort, sondern auch der dortige Stellenwert eines Oeuvres in den Zeiten vorher und nachher, der letztlich erst einen Rückschluss darauf ermöglicht, wie sich das spezifische Verhältnis zwischen einem Kulturschaffenden und seinem Zufluchtsort historisch und philologisch vertretbar interpretieren lässt. In diesem Sinne widmete sich Rüdiger Jennert mit Paul Hindemith einem Protagonisten unter den europäischen Exilanten, der auch jenseits des Atlantiks seit Ende der vierziger Jahre bei Publikum und Fachkreisen zu den führenden zeitgenössischen Komponisten zählte. Und die Lektüre verrät: Es geht um mehr als um Statistisch-Protokollarisches zu Hindemith in den USA, es geht um die Auslotung von Synergien, Kollisionen und Synthesen zwischen zwei veritablen komplexen Phänomenen.
Äußerst sach- und quellenkundig, differenziert und systematisch – jedes Großkapitel endet mit einer einprägsamen Zusammenfassung – unterteilt Jennerts Würzburger Dissertation das Oberthema in seine relevanten Betrachtungsfelder: das soziologisch-politische und institutionen- bzw. mediengeschichtliche, das im engeren Sinne aufführungsgeschichtliche, das rezeptionsgeschichtliche, das werkanalytisch-stilkritische.
So integriert die eingehende Darstellung des Musiklebens in den USA inklusive Rezeption zeitgenössischer Musik von 1920 bis 1963 den Verweis auf die beginnende, zunächst auf einen Kennerkreis begrenzte Hindemith-Rezeption in den USA der zwanziger Jahre und ihr Zusammentreffen mit einem grundlegenden Wandel im nationalen Musikleben, beschreibt Hindemiths Eingehen auf die musikalischen Bedürfnisse des Landes etwa durch verschieden gelagertes Bedienen der populären Genres Band-, Ballett- und Filmmusik und reflektiert seine eher musikpädagogisch als kompositorisch-stilistisch Schule machende Arbeit an der Yale University sowie die Revision seines geplanten USA-Verbleibs 1949 aus Gründen wie dem praktischen Bedeutungsverlust seiner Ästhetik, mangelnder Beachtung als Dirigent und Komponist und Tantiemenunterschlagung durch den Verlag AMP.
Eine quantitative Analyse betreffs Hindemith-Aufführungen in den USA untersucht die Popularitätsentwicklung des Oeuvres anhand von Statistiken: zunächst etwa die Berücksichtigung von Werken aus Hindemiths amerikanischer Zeit 1940 bis 1953 im Vergleich zu den jeweils vorher und nachher entstandenen Werken, wobei vor allem die amerikanische Erstaufführung der Symphonie Mathis der Maler 1934 und Hindemiths Konzertreisen 1937–39 für eine positive quantitative Rezeptionsentwicklung sorgten. Signifikant: die Präferenz der „neuen“, romantischabgeklärteren Musiksprache in den Werken zwischen 1934 und 1944 (z. B. Ballettmusiken, Orchesterwerke wie Symphonic Metamorphosis) auch nach Wiederentdeckung des sperrigeren Frühwerks ab den späten vierziger Jahren. Zum Abgleich mit solcherart Quantitativem lädt das auch entwicklungsgeschichtlich vorzüglich referierte Hindemith-Bild in der amerikanischen Musikkritik, die nach vielen Schwankungen den 1963 Verstorbenen auch weiterhin als jede Modeerscheinung überdauernden „craftsman“, Vertreter einer in den dreißiger Jahren einflussreichen Gebrauchsmusik-„Idee“ sowie als letzten Repräsentanten einer genuin deutschen Musiktradition in Erinnerung behielt. Und zu Stil und Stilwandel im amerikanischen Werk Hindemiths diagnostiziert Jennert auf der Basis exemplarischer Analysen von Melodik, Harmonik und Besonderheiten der Satztechnik: „all diese Merkmale sind Konsequenz einer längerfristigen und freilich nicht ausschließlich von den USA beeinflussten kompositorischen Entwicklung, die zu Beginn der vierziger Jahre bei Hindemith bis zur höchsten stilistischen Reife und Perfektion gediehen war.“ (S. 285). Hindemith konstituiere grundsätzlich keinen „amerikanischen Stil“, sondern antizipiere ab der zweiten Hälfte der vierziger Jahre – in Abkehr von seiner „Unterweisung im Tonsatz“ – Merkmale seines harmonisch dichteren und dissonanzreicheren Spätwerks.
Neben Quellen-, Literatur- und Werkverzeichnis erreicht der Anhang Sonderqualitäten durch eine New Yorker Hindemith-Aufführungsstatistik von 1923 bis 1953 sowie das 187-seitige Presse-Korpus zur Dokumentation des Hindemith-Bildes auf CD-Rom.

Andreas Vollberg
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 26 (2005), S. 449ff.

 

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