Miller, Stephen: Johnny Cash. Das Leben einer amerikanischen Ikone. – Berlin u.a.: Bosworth, 2004. – 468 S.: zahlr. SW-Fotos
ISBN 3-937041-63-X : € 34,95 (geb.)
Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist vieles anders: Die Autos sind größer, die Canons tiefer, und auch die Zahl der Ikonen unterscheidet sich von der in anderen Teilen der Welt. Neben der Trias Elvis, Marilyn und Micky Maus gibt es eine Anzahl von Nebengöttern, die in Teilbereichen der amerikanischen Gesellschaft den Menschen zur Identifizierung dienen. Einer von ihnen ist Johnny Cash, der Man in Black, dessen Karriere fast ein halbes Jahrhundert Rock-, Pop- und Country-Geschichte umfasst. Anders als bei Micky Maus, die als Comicfigur den Fluch der Unsterblichkeit und der ewigen Jugend vor sich hinträgt, aber auch ungleich den Biografien von Elvis und Marilyn, deren früher Tod zur eigenen Glorifizierung beigetragen haben, war Cash ein relativ langes Leben vergönnt. Zwar war er in den letzten Jahren von schwerer Krankheit gezeichnet, doch brachte er noch die Kraft auf, um ab 1994 mit neuer Plattenfirma, neuem Produzenten und vier neuen Platten ein Comeback zu erleben, für dessen Erfolg ihn die meisten seiner Altersgenossen, aber auch jüngere Musiker neidlos bewunderten.
Stephen Miller, ein schottischer Autor, Country-Fan und Musikjournalist, hat es sich zur Aufgabe gemacht, Johnny Cash ein literarisches Denkmal zu setzen. Das Ergebnis ist eine umfangreiche Biografie mit einer Fülle akribisch zusammengetragener Fakten und Anekdoten, die mit deutlicher Sympathie für den Sänger zusammengefasst wurden, trotzdem aber auch einige Wünsche offen lassen. Das liegt jedoch nicht in der Tatsache begründet, dass Miller Johnny Cash wegen dessen Krankheitsgeschichte und Tod nie selbst interviewen konnte. Mit dem Umstand, das Objekt der Betrachtung nicht mehr lebend zu treffen, müssen die meisten Musikbiografen (immer öfter auch im Popbereich) kämpfen. Kritik ist sowohl an der Motivation des Autors anzumelden als auch an seiner literarischen Umsetzung der Informationen. Bezogen auf den ersten Punkt muss man schon bei der Einleitung Misstrauen anmelden. Miller gibt hier an, dass er von Cashs Religiosität fasziniert war, da auch für ihn selbst „die ewige Debatte über den Glauben“ eines seines Lieblingsthemen sei (S. x). Deswegen versuche er auch in Cashs Erfahrung seine eigene Botschaft zu finden. Zweifelsohne gehört Religion zur Biografie von Cash, zumal der Künstler diesen Glauben während seiner ganzen Karriere hindurch auch musikalisch umsetzte. Das Verfassen des Buches aber als Selbsthilfe zum Erlangen der Erleuchtung zu benutzen, erscheint zweifelhaft. Glücklicherweise ist von dieser Selbstmissionierung des Autors im Verlauf des Textes relativ wenig zu erfahren.
Bezüglich des zweiten Kritikpunktes ist zu vermerken, dass es Miller nicht immer gelingt, die Faktenlage konsequent aufzubereiten. Zum einen lässt er Distanz vermissen, wenn er beispielsweise durch den häufigen Gebrauch des Vornamens Intimität mit dem Künstler vorgaukelt.
Zum anderen vermischt er unwichtige Details wie etwa den Namen der Baumwollsorte, die Cashs Vater anbaute, mit wichtigen Einzelheiten zum gesellschaftlichen und politischen Umfeld. Durch diese unterschiedliche Gewichtung gerät der Erzählfluss des öfteren ins Stocken, verhindert aber auch eine tiefer gehende Beschäftigung mit einzelnen Aspekten. So führt Miller den Drogenmissbrauch Cashs, der diesen wiederholt beinahe nicht nur die Karriere, sondern auch das Leben gekostet hat, auf dessen Schuldgefühle zurück, sich nicht genügend um seine Frau und die drei Töchter gekümmert zu haben (S. 104). Dabei impliziert der Autor aber auch die Vorstellung, die Familie des Künstlers, die dessen Lebensstil nicht geteilt hat, trage eine Mitschuld an dem Drogenkonsum. Unbefriedigend bleibt oft auch die Beschäftigung mit Cashs musikalischen Werk. So übernimmt Miller bereitwillig die Abneigung des Künstlers gegen jede Kategorisierung seiner Musik (S. 191), was ihn dadurch aber auch von der Notwendigkeit entbindet, sich intensiver mit musikimmanenten Aspekten von Cashs Liedern zu beschäftigen.
Trotz dieser Defizite (die auch für andere musikhistorisch interessante Bereiche wie die Bedeutung von Cashs Konzeptalben oder die seiner instrumentenspezifisch außergewöhnlichen Begleitband The Tennessee Two gilt) entwickelt Millers Vorgehensweise eine Atmosphäre, in der das Phänomen Johnny Cash deutliche Konturen gewinnt. Mag auch die Detailfülle nicht immer strukturiert sein, so hat sie doch den Charme einer riesigen Ansammlung von Zeitungsausschnitten, erzählten Anekdoten, Zitaten und anderen Informationsquellen. Diese Quellenvielfalt vermag beim Leser vielfältige Assoziationen zu wecken und lässt ihn tief in die erzählte Zeit eintauchen. Besonders großes Vergnügen bereiten solchermaßen die Kapitel über die Anfänge von Cashs Karriere in den 1950er Jahren. Staunend erfährt man von dem Mut und dem Selbstbewusstsein von Cash und seinen Weggefährten, die sich selbst nur als mittelmäßige Musiker betrachteten, es jedoch trotzdem schafften, das Interesse des legendären Sam Phillips zu wecken, der aus seinen Sun Studios heraus auch Elvis auf den goldenen Karriereweg gebracht hat. Hier ließe sich auch eine interessante Parallele zur heutigen Zeit herstellen. Unzureichende musikalische Fähigkeiten, die angehenden Musikern aus der Jetztzeit oft vorgeworfen werden, waren zu Cashs Zeiten nicht das vordringlichste Problem. Wichtiger war und ist es, Potentiale zu erkennen, die im Musik-Geschäft – und um ein solches im Wortsinn handelte und handelt es sich damals wie heute – Erfolge generieren können. Miller macht auch wiederholt deutlich, wo dieses besondere Potential bei Cash angesiedelt war. Cash wurde nicht deshalb zur amerikanischen Ikone, weil er sich einen Cowboyhut aufsetzte und Trucker- und Westernromantik verbreitete. Johnny Cash war musikalisch eigenständig, fand einen individuellen Stil, produzierte Konzeptalben mit Songs, deren Länge die üblichen Singlelaufzeiten um ein Vielfaches übertrafen. Zudem stand er mit seiner Beschäftigung mit so unterschiedlichen Themenbereichen wie Eisenbahn, Gründungszeit und Gefängnissen für einen amerikanischen Realismus, der Cash eine gehörige Portion Street Credibility und somit Erfolg bei vielen Landsleuten verschaffte.
Trotz der anfangs erwähnten Kritikpunkte hat Stephen Miller eine Biografie geschrieben, die viel von dem außergewöhnlichen Künstler Johnny Cash Preis gibt und auch bei manchen Lesern, die bislang eine Abneigung gegen Countrymusik verspürten, Interesse für dieses Genre und Cashs Platten wecken sollte. Positiv zu vermerken sind auch die zahlreichen Fotos und der Anhang mit Quellenangaben, Auswahldiskografie und Personen- und Titelregister.
Michael Stapper
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 26 (2005), S. 257ff.