Klein, Hans-Günter: „Goethe sein Vorbild“. Felix Mendelssohn Bartholdy, der Dichter und ihre familiären Beziehungen. Nach Briefen und Tagebüchern – Hannover: Wehrhahn, 2011. – 219 S.: Abb.
ISBN 978-3-86525-245-6 : € 20,00 (geb.)
Hier sind sie nun endlich vereinigt und kommentiert dargeboten: die Primär- und Sekundärquellen, die Haupt- und Nebenquellen zum Verhältnis Goethe – Mendelssohn. Das betrifft nicht nur Johann Wolfgang, sondern auch die Schwiegertochter Ottilie und den Enkelsohn Walther von Goethe und weitere Familienglieder auf der einen und nicht nur Felix, sondern auch den Großvater Moses, den Vater Abraham, die Schwester Fanny Mendelssohn (verh. Hensel) und weitere Familienglieder auf der anderen Seite. Klein hat zwar Recht, wenn er selber einräumt, dass sich Vollständigkeit bei diesen weit gefächerten Beziehungen nicht erreichen lässt, aber es ist schon ein großer Vorteil, wichtige und relevante Vorkommnisse hier einmal gesammelt vorzufinden.
Dass Goethe für Mendelssohn ein Vorbild gewesen sei, hatte Robert Schumann notiert; ob das nun eine von Mendelssohn selber herrührende Formulierung oder eine Charakterisierung Schumanns ist, läßt sich heute nicht mehr feststellen. Im Zentrum dieses Buches steht jedenfalls die Beziehung zwischen dem jungen Virtuosen und Komponisten, der sich bei seinem ersten Besuch im November 1821 noch in kindlicher Unbefangenheit produziert, und Goethe, der den 12-jährigen Knaben patriarchalisch empfängt und in seinem Hause musizieren lässt. Diese Beziehung wird aber immer reflektierter bis zum fünften und letzten Besuch, der Mendelssohn als 21-jährigen reifen Komponisten, der demnächst Goethes Erste Walpurgisnacht vertonen wird, vor Goethes Tod und auf dem Weg nach Italien noch einmal ins Weimarer Goethehaus führt. Weit interessanter, weil damit weniger bekannte Punkte und Affären berührt werden, sind aber die Berichte verständiger vierter Personen, wie Ludwig Rellstab oder Johann Christian Lobe, die über die Konstellationen innerhalb des Dreiecks Goethe – Zelter – Mendelssohn etwas distanziertere Berichte abgeben. Zelter spürte schon ziemlich früh, dass ihm der junge Felix Mendelssohn sehr schnell entwuchs und eigene Wege ging, die mit „gut“ und „brav“ nicht mehr zu fassen waren. Goethe und Zelter fühlten sich dafür verantwortlich, der sicht- und hörbaren Hochbegabung von Felix eine dauerhafte, sich steigernde Entfaltung zu gewähren. Die nicht minder hochbegabte Schwester Fanny musste zwar zurückstecken, vertonte aber letztlich mehr Goethe-Texte als Felix.
Als Vermittler fungierte aber nicht nur Zelter zwischen Goethe und seinem Schüler Mendelssohn, sondern vorerst einmal Abraham Mendelssohn zwischen den Senioren Goethe und Zelter, die dann, nachdem sie sich begegnet waren, eine einmalige Altmännerfreundschaft entfalteten, die literarisch in dem mit einem Auge schon auf die Nachwelt blickenden Briefwechsel überliefert ist. Mit dem unerlaubt erstveröffentlichten Prometheus-Gedicht von Goethe, das Friedrich Heinrich Jacobi im Rahmen einer polemischen Schrift über den Spinozismus Lessings dem Lessing-Verehrer Moses Mendelssohn vor die Füße warf, fing alles an. Goethes Schwiegertochter hatte später eine durchaus eigene Auffassung von der Bedeutung der Musik Mendelssohns, und die Beziehungen endeten damit, dass Ottilie ihn bat, einen aus nahe liegenden Gründen scheiternden Versuch zu unternehmen, ihren Sohn Walther zu unterrichten. Es stellte sich heraus, dass Mendelssohn, dem in seiner Kindheit alles zugeflogen war, ein schlechter Lehrer für einen langsam Lernenden wie Walther war.
Klein erzählt in den ersten beiden Dritteln dieses Bandes, dem historisch-narrativen Teil, sachkundig und sachlich über die vielfältigen Beziehungen beider Familien über mehrere Generationen hinweg, um im letzten Drittel, dem so genannten Anhang, die dazu gehörigen Dokumente aus alten und – so weit möglich – aus neuen kritischen Drucken zu präsentieren. Wenn auch manche Tatsache, wie jene, dass Mendelssohn bei seinem ersten Besuch im Hause Goethe auch an seiner dritten kleinen Oper (Die wandernden Komödianten) schrieb, unerwähnt bleibt, so werden hier doch die familiären Konstellationen und einzelnen persönlichen Beziehungen aus einem Zeitraum von 1778 bis 1838 tief gestaffelt wiedergegeben und mit entsprechender Vorsicht und Weitsicht interpretiert. Eine quellenmäßig fundierte Erzählung einer zentralen Geschichte aus dem klassisch-romantischen Deutschland, auf die man dankbar zugreifen sollte.
Peter Sühring
Berlin, 28.11.2011