Jessica Riemer: Rilkes Frühwerk in der Musik. Rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen zur Todesthematik. – Heidelberg : Universitätsverlag Winter, 2010. – 554 S. (einige Notenbsp.)
ISBN 978-3-8253-5698-9 : 66,– € (geb.)
Zusammen mit Stefan George, Christian Morgenstern, Hermann Hesse und dem heute fast völlig vergessenen Hermann Löns gehört Rainer Maria Rilke (1875-1926) zu den meistvertonten Dichtern seiner Generation. Doch während sich vor allem seine frühe Lyrik hierfür recht gut eignete, bereitete die immer komplexere Textstruktur seines späteren Schaffens der konventionellen Musikästhetik einige Probleme. Es ist darum kein Zufall, dass sich zu seiner Zeit weniger die eher traditionellen Komponisten als die „Modernen“ (wie etwa Arnold Schönberg, Anton Webern, Ernst Krenek oder Paul Hindemith) davon angesprochen fühlten.
Außerdem war Rilke schon bald äußerst populär und wurde um 1900 nicht nur vom literarisch interessierten Publikum gelesen. Deshalb führten die deutsche Soldaten im Ersten Weltkrieg auch Rilkes Gedichtzyklen wie Das Buch der Bilder, Larenopfer oder Das Stundenbuch und – rezeptionsgeschichtlich noch viel wichtiger – seine beiden großen Prosawerke, Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke sowie Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge mit sich, weil sie darin die existenziellen Grenzerfahrungen auf den Schlachtfeldern wieder fanden.
Der Titel des vorliegenden Bandes deutet zunächst auf eine in diese Richtung gehende Spezialstudie hin, doch entpuppt sich Riemers Darstellung als unerwartet umfassend: Zunächst erörtert sie nämlich Rilkes allgemeine Rezeptionsgeschichte von 1894 bis zur Gegenwart, geht dann anhand ausgewählter Texte ganz grundsätzlich auf die „Todesthematik in Rilkes Frühwerk“ sowie die Wechselbeziehung zwischen seiner Dichtung und der Musik ein und wendet sich erst danach (ab S. 271) einzelnen seit den 1930er Jahren entstandenen Kompositionen zu: Darunter als bekannteste die 14. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch, aber auch kaum oder zumindest weniger geläufige Stücke, wie die Kantaten Vom Menschen (Kurt Lissmann) und O Herr, gib jedem seinen eignen Tod (Quirin Rische) oder Krzysztof Pendereckis 8. Sinfonie. Im Zentrum steht jeweils die Frage nach dem politischen und gesellschaftlichen Hintergrund, der vom systemkonformen Kontext mit dem „Dritten Reich“ (Rische) über die Bewältigung der Kriegserfahrungen nach 1945 (Karl Schiskes Oratorium Vom Tode) bis zum Protest gegen die sozialistische Diktatur (Schostakowitsch) reicht. Die getroffene Auswahl ist stichhaltig, lässt sich aber natürlich auch immer kritisieren: Die Cornet-Vertonung von Hermann Reutter oder Alfred Irmlers Sinfonische Fantasie nach dem gleichen Text als Beispiel einer nicht textgebundenen Komposition wären ebenso geeignet gewesen. Ein ausführliches Werkverzeichnis zum Thema und ein Register hätten die insgesamt hoch interessante Arbeit vorteilhaft ergänzt.
Georg Günther
Stuttgart, 29. Oktober 2011