Lesage, Philippe: Anna Magdalena Bach et l’entourage féminin de Jean-Sébastien Bach. – Troinex/Drize [u.a.]: Editions Papillon, 2011. – 304 S.: s/w-Abb:, Ill. (7e note)
ISBN 987-2-940310-43-2 : SFR 44,95 (kart.)
Am 30. November 1985 erschien im „Basler Magazin“ ein vielbeachteter Artikel von Swantje Koch-Kanz und Luise Pusch über die Frauen der Bach-Familie. Er formulierte einige Fragen, vor allem hinsichtlich der Töchter: Warum werden sie in der Bach-Forschung so wenig beachtet? Warum werden sie – im Zusammenhang mit der oft thematisierten Begabungs-Vererbung in der Familie – als möglicherweise musikalisch Hochbegabte niemals in Betracht gezogen? Warum sind die Töchter weder musikalisch noch sonst nennenswert ausgebildet worden, während die Söhne – soweit nicht geistig behindert wie Gottfried Heinrich oder früh verstorben – nicht nur eine hochqualifizierte Musikausbildung erhielten, sondern auch Gelegenheit zu Universitätsstudien hatten? Warum sind die Söhne einerseits und die Witwe und die Töchter anderseits nach Bachs Tod so höchst unterschiedlich bedacht worden? Warum unterstützten die inzwischen beruflich erfolgreichen Söhne die Witwe und die unverheirateten Töchter, die als „Almosenfrauen“ lebten, kaum nennenswert?
Das Buch des Germanisten Philipp Lesage nimmt nur in Bezug auf die erste Frage einen anderen Blickwinkel ein, indem er zusammenträgt, was an Fakten über „l’entourage féminin“ Bachs bekannt ist (vorwiegend mit Hilfe von Maria Hübners Buch über Anna Magdalena Bach, Leipzig 2004). Auf die übrigen Fragen gibt er nicht nur keine Antworten, sondern sie werden überhaupt nicht gestellt. Sein Interesse gilt hauptsächlich „Jean-Sébastien“ Bach (die zahllosen thüringisch-sächsischen Bache behalten ihre deutschen Namen). Die Schwierigkeit einer Bach-Biographie liegt bekanntlich in der Tatsache, dass über das Leben Bachs nur sehr wenige Informationen vorliegen – die überschaubaren „Bach-Dokumente“ gelten einer Person, die uns als Mensch fast vollkommen verborgen bleibt. Das gilt erst recht für die Frauen der Familie. Und so besteht die Technik von Philippe Lesage darin, die bekannten Daten aus amtlichen Eintragungen, Eingaben, Quittungen, Widmungen usw. mit Verknüpfungen zu versehen, mit Vermutungen und Darstellungen, wie es hätte sein können, einschließlich einiger rührseliger Elemente wie dem „mariage d’amour“, der Liebesheirat zwischen Jean-Sébastien und Anna Magdalena (S. 89), und der „vaste chaîne de solidarité familiale“ (dem weiträumigen Netz von Familiensolidarität) nach Bachs Tod (S. 265). Der Versuch, sich mit Hilfe von „imagination“ (S. 36) in die Frauen um Bach (und ihn selbst) einzufühlen, kann daher wissenschaftlichen Maßstäben nicht genügen. Im Literaturverzeichnis fehlt der o.g. Zeitungs-Essay und auch der aufschlussreiche Artikel von Erich Reimer über Maria Barbaras Bachs Schwester Friedelena Margaretha [Musikforschung 63 (2010), H. 3], die über viele Jahre im Bach’schen Haushalt gewirkt hat.
Freia Hoffmann
Bremen, 26.10.2011