Salmen, Walter: „Nu pin ich worden alde…“. Begegnungen und Verweigerungen im Leben eines Musikwissenschaftlers – Hildesheim: Olms, 2011. – 368 S.: 36 Abb.; 28 Dok.
ISBN 978-3-487-08506-7 : € 24,80 (geb.)
Diese Autobiografie eines der Ältesten aus der musikwissenschaftlichen Zunft, der mehr wider- als freiwillig einer ihrer wichtigsten und auch weltoffensten Repräsentanten wurde, ist ein Glücksfall. Er, der am liebsten ohne institutionelle Zwänge frei und unabhängig geforscht und geschrieben hätte, ist doch zu einer Art guten Gewissen des Fachs Musikwissenschaft geworden, denn er musste sich erst an den immer noch mächtigen Überresten der nationalsozialistischen Ära abarbeiten und konnte sich nur gegen sie durchsetzen. Das waren strukturelle Überreste, die auf geistige Bevormundung durch Personen hinausliefen, die nach 1945 immer noch einflussreich waren, durch ihre Tätigkeit im Sinne des Nationalsozialismus aber eigentlich hätten desavouiert sein müssen. Von Autoritäten wie Georgiades und Blume wegen seiner kritischen Ansichten behindert, konnte Walter Salmen (*1926) doch seine eigene unabhängige Methode einer sozialkulturell und -kritisch orientierten Musikforschung entwickeln und ihr Gehör verschaffen. Davon zeugen seine bleibenden Arbeiten über die mittelalterlichen Spielleute, über Reichardt und Goethe sowie zur Kulturgeschichte des Tanzes und des Konzerts.
Es gab aber noch andere, nicht minder durch ihr nationalsozialistisches Engagement belastete, sich immer noch als Autoritäten aufspielende Musikwissenschaftler, denen Salmen versöhnend gestimmte Porträts widmet, weil sie sich nach 1945 ihm gegenüber hilfreich und fördernd verhielten. Dieser subjektiv gefärbte Blick mag etwas irritieren. Nachdem Salmen schon früher Nachrufe und Festschriften für Besseler und Müller-Blattau herausgebracht hatte, fragte man sich, wie er sich heute zu ihnen stellen würde. Aber auch durch das, was aus der Akte Besseler bekannt geworden ist, ließ sich Salmen nicht davon überzeugen, dass er es im Falle Besselers mit einem für totalitäre Ansichten anfälligen Menschen zu tun hatte und dass auch dessen musikhistorische Ansichten davon nicht unbeeinflusst waren. Seltsamerweise gibt Salmen selbst dafür aus Lehrveranstaltungen vor 1945 sogar Beispiele, die nicht weniger apodiktisch sind als die von ihm zitierten Äußerungen von Georgiades. Als er in Heidelberg nach dem Krieg weder von Besseler, der mit Lehrverbot belegt worden war, noch von Georgiades promoviert werden konnte, geriet Salmen ausgerechnet nach Münster zu Werner Korte (wie Rudolf Stephan nach Göttingen zu Gerber) und damit eigentlich vom Regen in die Traufe, ohne es bis heute richtig bemerkt zu haben. Korte, von dem er promoviert wurde, war einer der übelsten nationalsozialistischen Propagandisten gewesen. Ebenso wie Joseph Müller-Blattau, der nach 1945 im frankophonen Saarbrücken seine Zelte aufschlagen durfte, nachdem er früher im besetzten Strassburg gewirkt hatte. Salmen durchschaut zwar das Doppelspiel von Müller-Blattau und Adorno, sich Mitte der sechziger Jahre gegenseitig zu hofieren, weil Adorno und Müller-Blattau die Fürsprache der jeweils anderen Seite für ihre Durchsetzungs- und Rehabilitationsstrategien gebrauchen wollten. Für den aus Eitelkeit erblindeten Adorno konnte daher jemand, der bereit war, sein Mahler-Buch öffentlich zu loben, kein Nazi gewesen sein. So lief das damals.
Salmens also ab und zu etwas, wie er selber sagt, vergoldete Erinnerungen, zeigen eben auch, dass es nach 1945 kaum möglich war, irgendwo zu studieren, ohne mit den offenen und versteckten Vertretern einer totalitären Ideologie konfrontiert zu sein. Dass ausgerechnet die Ansichten Besselers und Müller-Blattaus ihm geholfen haben könnten, sich gegen jene von Georgiades und Blume zu behaupten, ist schwerlich anzunehmen. Und so erfährt man auch, aus welchem schon in seiner Jugend gelegten Fundus heraus Salmen wirklich schon frühzeitig ein Gegner des Nationalsozialismus geworden war. Es waren humane, auch christlich fundierte Lebenseinstellungen, die ihn immun machten gegen die idealistisch getarnten Verlockungen des Nationalsozialismus und ihn einen Weg gehen ließen, den man als einen Ausdruck geistiger Freiheit bezeichnen könnte. Er lebt heute als ein der hohlen Betriebsamkeit abgekehrter Gelehrter und Gartenfreund im Schwarzwald, und man darf auf ein weiteres Buch von ihm warten über das Tänzerische bei Mendelssohn, über das man nur reden kann, wenn man auch den unbekannten Teil von Mendelssohns Werk (z. B. seine Ballettmusiken in den Jugendopern) kennt.
Salmens Autobiografie enthält anschauliche und erstmals veröffentlichte brisante Dokumente, sowie ein Verzeichnis aller seiner Veröffentlichungen und ein Personenregister.
Peter Sühring
Berlin, 24.10.2011