Taggatz, Christoph: Gesang des Greises. Ernst Krenek und die historische Notwendigkeitdes Serialismus. – Schliengen: Edition Argus, 2008. – 360 S.: zahlr. Notenbsp. u. Tab. (Ernst Krenek Studien ; 4)
ISBN 978-3-931264-33-8 : € 43,00 (kart.)
Auf dem Schnellzug der musikalischen Moderne haben sich im 20. Jahrhundert zahllose Trittbrettfahrer einquartiert. Und wer es von den Stationen Expressionismus, Neoromantik und Neoklassizismus über Atonalität, Reihentechnik und Elektronik bis zu den 90-er Jahren bringt, ist nur mit hohem detektivischem Aufwand vom Verdacht des blinden Passagiers freizusprechen. Solches gelang nun Christoph Taggatz imposant mit seiner großformatigen Studie zu einer exemplarischen Werkgruppe im OEuvre eines sprichwörtlichen Stil-Chamäleons: dem seriellen Schaffen Ernst Kreneks.
Im Umfeld der Darmstädter Schule einsetzend, markiere es nicht die Anpassung einer ergrauenden Eminenz an den Aufbruch der jungen Pioniere, sondern eine kunstimmanent völlig gleichwertige, avantgardistische Puristensymptome überdauernde „historische Notwendigkeit“. Der personalidiomatisch verwurzelten Schwierigkeit eines historiographischen Nachweises stellt sich Taggatz quellenkundig in einem „Theorie“-Kapitel. Dieses fokussiert zwangsläufig zunächst die frei über alle greifbaren Stilistiken verfügende Überzeitlichkeits-Ästhetik des frühen Krenek, unter deren Etikett bis heute fälschlich auch sein Serialismus rubriziert wird, in ihrer disputhaft ausgetragenen Kontraposition zu Adornos historisch-teleologischem Theorem der linearen Materialentwicklung via Dodekaphonie. Letztlich aber zeigt sich, „dass Kreneks durch stilistische Uneinheitlichkeit geförderte geschichtliche Exzentrik (…) von einer stärker teleologisch orientierten Ästhetik abgelöst wird.“ (S. 53)
In diesem Sinne operationalisiert Taggatz auf über 260 Seiten unter dem Signum „Praxis“ über 20 mikroskopisch subtile Werkanalysen. Beginnend mit noch nicht genuin seriellen, doch Serialistisches vorausahnenden Werken der 30-er (!) Jahre, spannt sich der Bogen über die 1957-er „Sestina“, in der erstmals nahezu alle Parameter Kreneks präferiertem Rotationsprinzip unterliegen, bis zu den frühen 70-er Jahren. Die zwischen globaler und exemplarischer Sezierarbeit klug austarierten Befunde manifestieren eine Variabilität der präkompositorischen Mechanismen, die signifikant belegt, dass die Beherrschung der seriellen Technik in „konsekutiven, evolutionären Schritten“ (S. 292) erfolgt und auf ein kreatives Ineinander von Prädetermination und Zufall setzt. Systematisch vergleichend, antizipierend oder rückschauend, obwohl bisweilen paraphrasierend, erschließt Taggatz Pfade durch ein technizistisch-intrikates Gelände, korrigiert nötigenfalls Forscherkollegen und differenziert argusäugig zwischen Kreneks Gestaltungsfreiheiten und punktuellen Formfehlern. Und dass dem betagten „Palm Springs Composer“ postmoderner Stilpluralismus fremd blieb, rangiert unter den analysefrei referierten „Konsequenzen“.
Andreas Vollberg
Zuerst veröffentlicht in FM 30 (2009), S. 263