Tobias Bleek: Im Taumel der Zwanziger. 1923: Musik in einem Jahr der Extreme – Kassel/Berlin: Bärenreiter-/Metzler, 2023. – 316 S.: sw-Abb.
ISBN 978-3-7618-2519-8 (BA) u. 978-3-662-66601-2 (Metzler), € 29,99 (geb., auch als eBook)
Ein Buch zur Musik im Jahr 1923? Diese Datierung erweist sich als weitaus weniger beliebig, als man zunächst denken möchte. Denn was sich alles in diesem einen Jahr ereignet hat, wirkt zwanglos bis in die Gegenwart des Jahres 2023 weiter. Der Untertitel Musik in einem Jahr der Extreme ist passend gewählt: Gabriel Fauré komponierte noch ganz im Sinne des 19. Jahrhunderts, Arnold Schönberg dagegen formulierte in diesem Jahr endgültig seine Theorie des Komponierens mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen. Die Verlockung eines klingend ausfantasierten Exotismus stand zeitgleich neben völkisch nationaler Gesinnungsmusik, und Bartóks Versuch, in seiner Tanz-Suite Kunstmusik und Volksmusik zu amalgamisieren, erfolgte parallel zu dem Einbruch des Jazz in das europäische Musikhören. Auch jenseits der Kunst war 1923 ein Jahr zwischen Krisen und Aufbruch: Die Inflation kulminierte, gleichzeitig wurde in Deutschland 1923 die erste Radiosendung ausgestrahlt, was die Nutzung von Musik grundlegend verändern sollte. Und nicht zuletzt markiert 1923 das Gründungsdatum des Bärenreiter-Verlags, in dem einhundert Jahre später Tobias Bleeks Buch zu diesem ganz besonderen Jahr erscheint: Im Taumel der Zwanziger. 1923: Musik in einem Jahr der Extreme.
Bleek, Musikwissenschaftler, Musikvermittler, Honorarprofessor an der Folkwang Universität der Künste Essen und seit 2007 Leiter des Education-Programms des Klavier-Festivals Ruhr, hat sich durch seine intensive Reflexion von Musikvermittlungsansätzen eine besondere Fähigkeit zum nicht belehrenden, sondern bereichernden Schreiben erarbeitet. Im Taumel der Zwanziger erweist sich damit als Zwilling zu dem 2018 von ihm gemeinsam mit Ulrich Mosch herausgegebenen Band Musik. Ein Streifzug durch 12 Jahrhunderte – in dem es übrigens auch ein Kapitel zum Jahr 1923 gibt. Während im Streifzug anhand punktgenau aneinandergereihter Kernmomente eine Musikgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart erzählt wird, setzt Bleek im Taumel mit dem Skalpell der Wissenschaft einen Schnitt in die Tiefe. So kann all das Heterogene, das sich zeitgleich ereignet, in seiner ganzen Vielfalt, oft auch Widersprüchlichkeit, wahrnehmbar werden. Dabei entdeckt Bleek in diesem einen Jahr so viele signifikante Ansatzpunkte für eine Musikgeschichte der Gegenwart, dass man nur staunen kann, wieviel Grundsätzliches 1923 seinen Ausgang nimmt. Deutlich wird diese Gegenwartsrelevanz auch deswegen, weil Bleek seine Kapitel-Themen so auswählt, dass sie zueinander in erhellende Beziehung treten. Und „chapeau!“, dass er keine deutsche Musikgeschichte schreibt (wofür der Stoff allemal ausgereicht hätte), sondern mit gleicher Neugier, gleichem Eifer ein europäisch-amerikanisches Netz ausspannt, das nationale Interessen problematisiert und die Alte und die Neue Welt zueinander in sinnstiftende Beziehungen setzt.
Das Buch beginnt freilich in Deutschland – doch nicht beim Muszieren und Komponieren, sondern bei der Frage nach der Bedeutung von Kultur in einem alles andere als kulturförderlichen Umfeld: „Musikleben im Deutschland der Hyperinflation“ heißt das erste Kapitel. Und sogleich blickt Bleek auch auf „Deutsche Musiker und Musikerinnen auf Auslandstournee“, spiekt über die Anrainer-Grenzen und erweckt damit das lebensvolle Bild einer Zeit, in der Musik trotz aller Alltags-Aberwitzigkeiten zum Ruhe- und Fluchtpol wurde in einer Welt, deren Mechanismen immer undurchschaubarer wurden.
Bewegung, Veränderung als Mittel zum Überleben – das zeigt Bleek in seinem aufs Wesentliche kondensierten Kapitel zu Igor Stravinsky: „Selbsterneuerung eines Immigranten“. Dessen Immigration erschließt das kulturelle Zentrum Paris – und zwar ausgerechnet durch Stravinskys urrussisch-stilisiertes Werk Les Noces.
Auf ähnlich Weise werden Kulturgrenzen auch in den folgenden drei Kapiteln fruchtbar problematisiert, wo es um den Widerpart von Nationalismus und kulturellem Austausch am Beispiel von Béla Bartóks Tanz-Suite geht, um eine „politischen Vereinnahmung von Musik während der Ruhrbesetzung“ und um Schönbergs Problem mit der „deutschen“ Musik seiner Zeit. Dass Bleek das höchst sensibel tut, sich nie an einem Punkt festbeißt und kulturelle wie geographische Grenzen stets von beiden Seiten durchleuchtet, verleiht den (erstaunlich knappen) Kapiteln eine bemerkenswerte Vielschichtigkeit.
Kurzschlüssige Festlegungen sind des Autors Sache nicht. Facettenreiche Innenperspektiven und plurale Außensichten ergeben im Mit-, Gegen- und Ineinander manch unerwartete Erkenntnis. Kein Wunder also, dass Bleek auch bei der für die 20er Jahre so wichtigen Frage des Nationalen Grenzen durchlässig macht: „New Orleans in Chicago“ und „Black music matters“ sprechen mit liebevoller Detailtreue über die Wurzeln des Jazz und verdeutlichen, warum diese Musik auch in Europa nicht ungehört bleiben konnte.
Ohnehin schreibt Tobias Bleek in dem gesamten Buch nicht nur eine Geschichte der sogenannten „ernsten“ Musik, der Hochkultur, sondern kreuzt zwischen Volksmusik, politischen Kampfgesängen und „Ausgerechnet Bananen!“, „zwischen Eroica und Madame Pompadour“ (wie er S. 138 selbst schreibt), durch mancherlei Gewässer. Seine Untersuchungen beziehen Soziologie, Politik und Ökonomie nutzbringend mit ein, vertiefen Fragen von Emigration, Nationalismus und Populismus und landen im Schlusskapitel beim „Aufbruch inmitten der Krise“, nämlich beim „Beginn des Rundfunkzeitalters in Deutschland“.
Beim Lesen des Buches staunt man, wie zwanglos es Bleek gelingt, das Exemplarische, das über 1923 Hinausreichende der mannigfaltigen Perspektiven auszuführen, ohne sich von seinem Themenjahr zu lösen. Als Musikvermittler kann Bleek beneidenswert gut erzählen, aufs Wesentliche fokussieren, aussagekräftige Narrative herausstreichen, seine Themen in wohlproportionierte Intervalle gliedern. Und er kann dies ohne Abstriche an der wissenschaftlichen Fundierung (das Literatur- und Archivverzeichnis spricht Bände!), zugleich ohne Ermüdung, Überforderung oder Langeweile.
Fazit: Im Taumel der Zwanziger ist ein Bildungsvergnügen, ist Vermittlung par excellence, ist Kürze mit Würze und Tiefenbohrung ohne Abstriche. Mehr davon!
Inhalt
Kadja Grönke
Oldenburg, 18.12.2023