Brown, Clive: Louis Spohr. Eine kritische Biographie / Aus dem Engl. übers. von Wolfram Boder. – Berlin: Merseburger, 2009. – VIII, 439 S.: zahlr. Notenbsp., Abb.
ISBN 978-3-87537-320-2 : € 49,90 (kart.)
Zwischen Beethoven und den Neudeutschen erhob man ihn ins Pantheon, die Nachwelt aber flocht ihm keine Kränze: Louis Spohr (1784–1859). Auch im vielfachen Jubiläumsjahr 2009 verblasst sein 225. Geburtstag vor Händel, Haydn, Mendelssohn. Zumindest aber präsentiert Merseburger mit Wolfram Boders aktualisierender Übersetzung der 1984 bei Cambridge University Press erschienenen Critical Biography Clive Browns die bisher profundeste Spohr-Vita des deutschen Sprachraums. Indem ihr Untertitel auf den methodischen Zugriff anspielt, veranschlagt Brown die qualitative Messlatte frappierend hoch. So kommt sein Leser kaum umhin, den 18 Kapitel starken Text minutiös auf historisch-kritische Konsistenz nach modernstem Forschungsverständnis zu prüfen.
In der Tat: In vielen Aspekten bedient die traditionell linear und chronologisch, auch für den interessierten Laien höchst ansprechend referierte Lebens- und Werkbeschreibung die Erfordernisse interdisziplinär verwurzelter Monographik: auf Faktenbasis Spohrs Werdegang mit seinen frühen Jahren als Braunschweiger Hofmusiker, dann Konzertmeister am aufgeklärten Hof von Gotha, gefolgt vom Aufstieg zu einem der gefragtesten Violinvirtuosen und Komponisten seiner Ära, kürzeren Stationen in Wien, Italien, Frankfurt, London, Paris und Dresden, letztlich sein über 35‑jähriges Wirken als Hofkapellmeister in Kassel. In greifbare Nähe rückt Browns mitunter evident Sympathie ergreifender Berichtsduktus den energischen Vordenker für Würde und Unabhängigkeit des Künstlers, dessen liberal-despotenfeindliche Attitüde mit den Kleingeistereien zumal des Kasseler Dienstherrn kollidierte. Sensibel skizziert erscheint die Persönlichkeitsentwicklung des unter rauer Schale offenherzigen Pädagogen und vom Schicksal geprüften Familienoberhauptes. Das Primärinteresse aber gilt dem seinerzeit mit Ruhmesprädikaten Überhäuften, dessen klassisch-apollinisch geerdetes, indes wenig massentaugliches OEuvre sich im Dunstkreis Wagners erdrutschartig aufs Abstellgleis verbannt sah – mochten auch gerade die Progressiven von Spohrs komplexer Harmonik und formaler Innovation profitieren.
Mit weniger Fortune leider begegnet Brown dem Dilemma aller global konzipierten Komponistenporträts: umfassender Werküberblick vs. analytischer Tiefgang. Gewiss verraten die Essentials zu Spohrs Symphonien, Opern, Oratorien, Streichquartetten, Liedern u. v. a. den gattungsgeschichtlich beschlagenen Souverän. Wohl unfreiwillig analog zu dem an Spohrs Musik wiederholt bemäkelten Floskel-Manierismus aber fischt Brown in einem Bassin banaler Wertungsattribute, deren Spektrum – einer dezidiert „kritischen Biographie“ peinlich inadäquat – zwischen „reiner Schönheit“ und „Abgedroschenheit“ changiert. Weitere Corrigenda: Holprigkeiten in Stil und Orthographie der Übersetzung.
Andreas Vollberg
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 30 (2009), S. 251f.