Gregor Dotzauer: Schläft ein Lied in allen Dingen. Über Musik, Moment und Erinnerung [Michael Stapper]

Gregor Dotzauer: Schläft ein Lied in allen Dingen. Über Musik, Moment und Erinnerung – Berlin: Matthes & Seitz, 2022. – 176 S.
ISBN 978-3-7518-0097-6 : € 22,00 (Hardcover)

Wir blicken auf eine Plakatwand. Oder auf eine Litfaßsäule. Zerfetzte Papierstreifen liegen so dicht übereinander, dass wir noch nicht einmal erahnen können, welches Produkt, welche Veranstaltung hier einst beworben wurde. Natürlich stehen wir nicht tatsächlich vor dieser Wand, sondern wir betrachten das Cover von Gregor Dotzauers Essay-Band und wir fragen uns, ob auch in diesen gestrigen bis uralten Artefakten jenes Lied schläft, wie es Joseph von Eichendorff einst poetisch formulierte. Mit jedem gelesenen Kapitel erschließt sich der Bedeutungszusammenhang. Zwar sind es Fetzen aus der Vergangenheit, konservierte Erinnerungen in mehreren Schichten. Doch diese gepressten Erlebnisse können archäologisch entschlüsselt und in Beziehung gesetzt werden. Plötzlich hängt alles mit allem zusammen und diese banale Erkenntnis hilft auch über den Schmerz hinweg, dass es – wie es im Klappentext heißt – vergeblich sei, „von einem absoluten Anfang zu träumen“, wenn sich musikalischer Sinn immer in dem Spannungsfeld von „Etwas hören. Etwas wieder hören. Etwas wie zum ersten Mal hören.“ ergibt.

Gregor Dotzauer ist der Autor, der die Leserschaft in seinen zutiefst subjektiven philosophisch-poetischen Meditationen auf einen Streifzug durch die unterschiedlichsten zeitlichen und räumlichen Klanglandschaften einlädt. Der Literaturkritiker und Essayist ist studierter Germanist und Musikwissenschaftler und arbeitet nach Stationen bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der ZEIT und der Süddeutschen Zeitung derzeit als verantwortlicher Redakteur für Sachbücher beim Berliner Tagesspiegel. Während sich Dotzauer in seinem Berufsalltag mit den Empfindungen, Erlebnissen und Forschungsergebnissen anderer Autorinnen und Autoren beschäftigt, will er sich in seinen eigenen Betrachtungen auf die Wirkung konzentrieren, die musikalische Werke verschiedenster Kategorien bei ihm selbst auslösen.

Man kann die 34 Kapitel durchaus als Roadtrip lesen, in dem der Autor sein Zuhause verlässt, sich durch die Stadt treiben lässt, in vielen Assoziationen Zeit und Raum wechselt, sich in Jazzkneipen und Konzertsälen wiederfindet, um schlussendlich heimgekehrt am Klavier zu sitzen und „ohne nachzudenken einen beidhändigen Cluster in die Mitte der Tastatur“ zu werfen, um „in aller Ruhe das Durcheinander“ zu betrachten und den „Tonhaufen zu entwirren“ (S. 171). Für Dotzauer steht dabei alles miteinander in Beziehung. Scheinbar frei fließende Gedankenströme und unvermittelt auftretende gedankliche Verbindungen verfestigen sich in einem Netzwerk von Klängen, Bildern, Worten und Theorien. Exemplarisch sei das 23. Kapitel (S. 137ff) herangezogen: Die Leserschaft folgt dem Autor auf seinem Bummel durch die Stadt, hört von seiner Begeisterung für den Vibraphonisten Christopher Dell, nimmt eine gedankliche Abkürzung vom Sinnieren über Topografie zur Architektur, macht einen kurzen Stopp bei Pythagoras, Pierre Boulez und John Cage, um schließlich Daniel Liebeskind zu treffen, bevor man Christopher Dell wiederfindet. Sich der Zusammenhänge bewusst zu werden, das Lied – wie es im Titel heißt – in allen Dingen zu finden, ist einer der Ansprüche von Gregor Dotzauer. Über diese Gedankengänge findet der Autor auch die Formulierungen, Metaphern und Vergleiche, die ihn dem Unmöglichen näherbringt: Eine Sprache zu finden, die das Gehörte adäquat übersetzt, damit zu erklären versucht und der Leserschaft ein ähnlich subjektives Erleben ermöglicht.

Gregor Dotzauers Gedanken erschließen sich mitunter sofort und unmittelbar. Doch so leicht macht es der Autor dem Publikum nicht in jedem Kapitel. Eine vierseitige Literaturliste, in einer nicht-wissenschaftlichen Abhandlung eher ungewöhnlich, dient daher sowohl der Vorbereitung als auch der Fortführung der Beschäftigung. Versöhnlich ist dabei das Eingeständnis Dotzauers, das auch er bisweilen mit dem Verständnis seine Schwierigkeiten hat. Freimütig bekennt er nach der Lektüre der langersehnten Übersetzung eines Gedichtbandes von Wallace Stevens: „Ich begriff auf Anhieb kaum ein Wort“ (S. 149). Seine daraufhin entwickelte Schlussfolgerung klingt ermutigend: „Wo Philosophie sich in der Regel als Wissen präsentiert, versteht sich Poesie als Momentaufnahme in einem Prozess unendlicher Annäherung“ (S. 152). So dürfen auch wir Gregor Dotzauers poetische Meditationen als solche Momentaufnahmen begreifen, die uns auf dem niemals endenden Weg begleiten. Mal halten sie uns bei Laune, mal reizen sie zu neuem Tatendrang, bestenfalls sind sie eine Vorahnung der nie erreichbaren vollständigen Erkenntnis. Dotzauers vielschichtige Betrachtungen, seine umfassende und tief empfundene Begeisterung für Musik in ihrer großen Bandbreite, mögen ein Wegweiser auf unserem persönlichen Roadtrip sein.

Leseprobe

Michael Stapper
München, 31.03.2023

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