Michael Meyer: Moderne als Geschichtsvergewisserung. Musik und Vergangenheit in Wien um 1900 – Kassel u.a.: Bärenreiter, 2021. – 243 S.: Abb. (Fokus Musikwissenschaft)
ISBN 978-3-7618-2603-4: € 65,00 (geb.)
Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, Hermann Bahrs Wien, Ferdinand von Saars Wiener Elegien und – selbstverständlich – Hugo von Hofmannsthals vielzitierter Chandos-Brief: Nicht explizit musikalisch, sondern durchaus konventionell literarisch führt der Organist und auch auf Alte Musik spezialisierte Musikwissenschaftler Michael Meyer in den Gegenstand seiner Habilitationsschrift über verschiedene Spielarten der musikbezogenen erinnerungskulturellen Selbstvergewisserung Wiens zur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende ein. Beeindruckend in ihrem Quellen- und Facettenreichtum versammelt die ambitionierte Studie Moderne als Geschichtsvergewisserung. Musik und Vergangenheit in Wien um 1900 in Folge ausgewählte Fallbeispiele aus einem steten Spannungsfeld zwischen Alt und Neu. Der Fokus von Meyers Arbeit liegt dabei vor allem auf „Zeugnisse[n], die aus der Zeit zwischen ca. 1890 und 1918 stammen“ (S. 15), doch es zeigt sich schnell, dass ein strenges Aufrechterhalten dieser Grenzen faktisch kaum möglich scheint – durchaus zum Gewinn der Leserschaft. Nicht nur führt der vergleichende Blick des Autors notwendigerweise tief zurück ins „lange 19. Jahrhundert“ und darüber hinaus. Die Referenzen auf die Vergangenheit, in denen nicht zuletzt die Antike-Rezeption für Geschichts- und Selbstverständnis des Bürgertums einen entscheidenden Faktor darstellt, nehmen dabei auf Stadt- und Staatsgrenzen nur bedingt Rücksicht.
Der wohlüberlegte, eine logisch-stringente Entwicklung der eingangs entwickelten Thesen repräsentierende Aufbau der Publikation in drei Hauptabschnitte, welche sich jeweils wiederum in zwei Unterkapitel gliedern, macht rasch Lust auf ein tieferes Eintauchen in die Lektüre: „Urbanität und Fortschritt“ (S. 21-95) versammelt zunächst relevante Beobachtungen aus den Bereichen Stadtgeschichte und Architektur, um sich dann der Konstituierung und politischen Instrumentalisierung von Identität über die „Internationale Ausstellung für Musik- und Theaterwesen“ sowie über die Jubiläumsfeiern für Schubert und Haydn zu widmen. Aus diesem Rahmen hervorgegangene Fragen der Kanonisierung werden im mit „Geschichte und Erneuerung“ (S. 97-142) betitelten mittleren Abschnitt erneut aufgegriffen und um fachgeschichtliche Aspekte aus der noch jungen, sich gerade etablierenden Musikwissenschaft bereichert: Guido Adler erscheint hier als einer der zentralen Protagonisten. Mit dem dritten und letzten Abschnitt kippt die – ohnedies permanent bedrohte – Aufbruchsstimmung der Moderne noch weiter in Richtung „Distanz und Auflösung“ (S. 143-196). Doch Meyers analytischer Blick auf gleichermaßen bekannte wie weniger geläufige musikalische Beispiele des sich selbst in Frage stellenden, produktiven Umgangs mit Klischees des Wienerischen legt abermals jene changierenden Ebenen offen, die sich allzu klaren Zuordnungen entziehen. Entsprechend finden in diesem Kapitel die Pasticcio-Operette Alt-Wien, Richard Strauss‘ und Hugo von Hofmannsthals Rosenkavalier und Ariadne auf Naxos sowie Hermann Bahrs Eipeldauer Elektra nebeneinander Platz.
Im „Epilog“, der anstelle eines resümierenden Gesamtblicks vertiefend in die konkrete Rezeptionsgeschichte der Ariadne auf Naxos eindringt, räumt Michael Meyer ein, dass im Rahmen seiner vorliegenden Publikation „noch viele weitere Exempla vonnöten gewesen [wären], um dem Gegenstand mehr Plastizität zu verleihen.“ (S. 199) Diese entwaffnende Feststellung ließe sich, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, auch auf die weiterführende Kontextualisierung der benannten Exempla ausweiten. So stellt Meyers an sich hochinformatives und lesenswertes Werk das Wien der Moderne etwa als einen Ort fast ohne Frauen vor. Mit einigen wenigen Ausnahmen bestätigt der quantifizierende Blick ins Personenregister der Publikation diesen nach erfolgter Lektüre gewonnenen Eindruck: Erwähnung finden unter Bezug auf Franz Schreker die Tänzerinnen Elsa und Grete Wiesenthal, eher kursorisch die Schauspielerin und Dramatikerin Marie von Ernest sowie Christiane Gräfin von Thun-Salm, ausführlicher die Musikwissenschaftlerin Elsa Bienenfeld als Rezensentin der Ariadne, Mathilde Melkus im Kontext der Haydn-Zentenarfeier, Pauline Fürstin Metternich in ihrer Funktion für die „Internationale Ausstellung für Musik- und Theaterwesen“, weiters obligatorisch „Landesmutter“ Maria Theresia – und, als skandalumwitterte Darstellerin der Letzteren in Franz von Schönthans gleichnamigem Lustspiel, Katharina Schratt. Die Leerstelle, die in dieser insgesamt doch recht kurzen Liste gerade Musikerinnen oder gar Komponistinnen betrifft, gewinnt besonders im Fall der Komponistin Mathilde Kralik von Meyrswalden eine nahezu greifbare Gestalt. Die Schwester des in seiner Rolle als Historiograph gleich im ersten Kapitel einigermaßen prominent behandelten Richard Kralik von Meyrswalden wird selbst in dessen umfangreicher biographischer Fußnote nicht genannt (vgl. S. 27), obwohl die Geschwister auch künstlerisch zusammenarbeiteten (vgl. hierzu Birgit Saaks 2014 publizierte Dissertation). Darüber hinaus findet, für eine thematisch einschlägige Studie durchaus überraschend, unter anderem der zeitgenössische Einfluss von Otto Weiningers vielrezipierter Schrift „Geschlecht und Charakter“ keinen Eingang in Meyers Erwägungen. Einige grundlegende Spielarten der Identitätssuchen und Identitätskrisen, wie sie gerade für die Wiener Moderne als konstitutiv erscheinen, gehen in ihrer Relevanz somit bedauerlicherweise unter – was umso mehr auffällt, als sich mit „Identitäten und Identitätskrisen“ (S. 59-95) sogar ein entsprechend benanntes Unterkapitel für die Auseinandersetzung mit ihnen angeboten hätte. Dieses bleibt jedoch primär politisch ausgerichtet und verzichtet auf eine umfassendere Reflexion innerhalb der gegebenen Fragestellung. Nun lässt sich selbstverständlich mit einiger Berechtigung einwenden, dass es unmöglich sei, das ganze Feld relevanter Themen des überaus komplexen Problemaufrisses in einer einzigen, wenngleich umfangreichen Arbeit abzudecken; dass dies letztlich doch ein sehr viel größeres Projekt erfordern würde. Das ist natürlich richtig – allein, eine Benennung bzw. Skizzierung dieser verbleibenden Desiderata wäre doch wünschenswert gewesen.
Meyers mit der vorliegenden Publikation verfolgter Versuch, die von ihm diagnostizierte Lücke einer „Zusammenschau von Spielarten musikbezogener Geschichtsvergewisserung in Wien um 1900“ (S. 12) weiter zu schließen, ist aufgrund des mit einem solchen Vorhaben einhergehenden, wohl allzu umfangreichen Anspruchs nur teilweise gelungen. Der gewinnbringenden, aufschlussreichen und gedankenanregenden Lektüre seines Buches, das sich in seiner Komplexität allerdings eher an eine Leserschaft mit einschlägigen Vorkenntnissen wendet als an interessierte Laien, tut dies jedoch keinerlei Abbruch.
Michaela Krucsay
Leoben, 25.02.2023