Breaking Free. Die wunderbare Welt des LGBTQ-Musicals / Hrsg. von Kevin Clarke [Kadja Grönke]

Breaking Free. Die wunderbare Welt des LGBTQ-Musicals / Hrsg. von Kevin Clarke. Berlin: Querverlag, 2022. – 326 S.
ISBN 978-3-89656-322-4: € 29,00 (Klappbroschur)

Ah – wieder ein schönes und wohldurchdachtes Buch aus dem Berliner Querverlag! Leider ganz ohne Abbildungen (die bei diesem Thema wirklich fehlen), dafür mit vieldeutigen schwarzen Trauerrändern (?) bei den eingefügten Interviews. Intensiviert durch Weiss-auf-Schwarz gedruckte Anfangsseiten, sind diese Dialoge mit Helmut Baumann, Stephanie Kuhnen, Dagmar Manzel, Richard McCowen, Pierre Sanoussi-Bliss und Rainer Luhn, Florian Klein aka Hans Berlin, Yousef Iskander, Christoph Marti, Rory Six, Brix Schaumburg, Jannik Schümann und Lyon Roque dadurch schnell zu finden – und zudem alles andere als ein Trauerspiel: Der unbedingt auf Leselust ausgerichtete Sammelband lebt von der Vielseitigkeit seiner Präsentationsformen ebenso wie von dem facettenreichen Zugriff auf sein Thema, und da bilden diese Interviews das Insider-Tüpfelchen auf dem I der fachlichen Vermittlung.

Folglich bietet „Die wunderbare Welt“ des Musicals in seinen bunten, LGBTQ (und implizit auch alle weiteren sternchen-, unterstrich- oder doppelpunktrelevanten Akronyme) besonders ansprechenden Spielarten keine Auflistung von Werken und Autoren; eine geschichtliche Übersicht oder eine Werkliste sucht man vergebens. Stattdessen vereint der Aufsatzsammelband (der eigentlich eine Erlebniserzählung in 31 Abschnitten ist) wechselnde Perspektiven, mannigfache Aspekte, punktuell vertiefte historische Einblicke, und es fällt überdurchschnittlich oft das Wort „ich“.

Dass das Thema „Musical“ nicht als sterile Gattungsgeschichte abgehandelt wird und man am Ende dennoch das Gefühl hat, tief in das Wesentliche eingetaucht zu sein, dafür steht der Herausgeber Kevin Clarke, Leiter des Operetta Research Center Amsterdam, Hochschuldozent, Redakteur, Journalist und operetten- und musicalvernarrter Enthusiast mit Sendungsbewusstsein: Die Hälfte der 12 Interviews plus 15 Sachbeiträge und 4 Vor- und Nachreden stammt von ihm. Für die andere Hälfte hat er Wissenschaftler:innen und Praktiker:innen vorwiegend aus dem deutsch- und englischsprachigen Raum dazugebeten, die sich mit gleicher Chuzpe, mit gleicher Lust an kleiner Provokation, großem Sachwissen und umfassender Erfahrung in ihre Themen stürzen.

Zwischen dem Statement des Klappentexts, der durch Unterstützung der Senatsverwaltung für Kultur und Europa Berlin mit ermöglichte Band Breaking Free sei „das erste deutschsprachige Buch, das sich die Erfolgsgeschichte der Darstellung von LGBTQ im Musical genauer anschaut,“ und der Einleitung des Herausgebers, die mit „Das ist doch nicht etwa noch ein Buch über LGBTQ-Musicals, oder?“ (S. 7) beginnt, klafft das Dilemma, lockt aber auch das Spannende und „Wunderbare“ dieser Wunderbaren Welt des LGBTQ-Musicals: Denn zwischen dem anglo-amerikanischen (und, wie dem autobiographischen Vorwort von Barrie Kosky zu entnehmen ist, auch dem australischen) Musical-Kult und der deutsch-österreichischen Abwehr von Unterhaltungs-Kunst zieht sich ein Graben, der 1933 „mit der allgemeinen Einführung staatlicher Subventionen (und entsprechender ideologischer Kontrolle der Spielpläne)“ (S. 13) aufbrach und sich jetzt gerade erst dank Netflix, Amazon Prime, Disney+, YouTube und einer digital affinen jungen Generation langsam wieder schließt. Konsequent handelt es sich bei Breaking Free zwar um einen deutschsprachigen Sammelband (der Klappentext hat also Recht), aber ein Großteil der genannten Bühnenwerke, der zitierten Literatur, der Libretto-Anspielungen und der szene-eigenen Fachbegriffe stammt aus dem Englischen. Vor allem in den USA ist LGBTQ als Zielgruppe in Produktion und Publikum derzeit weitaus präsenter als in merry old Europe. So gesehen, ist die wiederholte Entscheidung für englischsprachige Überschriften keine Anbiederung, denn z. B. der doppelte Plural in „Representations of Ourselves“ („Eine Übersicht über die Gay Musicals der 1970er Jahre“ von Ulrich Linke) oder der Verweis auf die Gay-Pride-Hymne aus Jerry Hermans Musical La Cage aux Folles über Kay Links Beitrag „I Am What I Am“ („Schwule Charaktere im Mainstreammusical“) bringen auf nur einen Blick zum Ausdruck, was sich auf Deutsch schwerlich so knapp umschreiben ließe.

Für das Lesen wird also – passend zum Thema – Toleranz und multidimensionales Denken gleich auf mehreren Ebenen eingefordert: nicht nur in Bezug auf die implizite Zweisprachigkeit, sondern auch hinsichtlich der Sprachebenen – es geht überproportional häufig auch um Sex/Eros und Autobiographisches, und so etwas lässt sich nunmal kaum im akademischen Stil abhandeln – und angesichts der unterschiedlichen Diskussionsebenen. Die musikhistorische Ebene („Musicalforschung. Ein kurzer historischer Überblick“; Elizabeth Wollman mit Kevin Clarke), soziologische Ansätze („Lesbische Repräsentation im deutschen Musical und in den Musicals von Peter Lund“; Olivia Maria Schaaf), werkbezogene Blickweisen („Welcome to Falsettoland! William Finns Marvin-Triologie über die queere Patchwork-Familie“; Brigitte Elisabeth Tauscher), popularkultur-kritische Zugriffe („Disney and Diversity“; Ralf Rühmeyer) und die Interviews mit ihren persönlichen Statements („Viele haben mir später erzählt, dass meine Zaza ihr Coming-out befördert hat“; Interview mit Helmut Baumann) fordern nicht nur formal, sondern auch inhaltlich immer wieder, dass sich die Schar der Lesenden auf Unbekanntes, Unübliches, Unerwartetes einlässt.

Der offenkundige Spaß, den die Mitwirkenden an diesem Sammelband hatten, produziert viel Wissen, aber auch viel sprachliches *Bling-bling* und mannigfache innere Bilder. Ach wie gern hätte man zu den farbigen Formulierungen ein paar Fotos gehabt – und sei es nur, um ein ganz klein wenig der Lust zu frönen, als Wissenschaftler:in auch mal Voyeur:in zu sein: „Sein Kostüm muss man sehen, um es zu glauben“ (S. 135)? Her mit dem Foto! Und die „ungewöhnliche und opulente, leider megafloppende Produktion“ von „Freudiana!“ (S. 136) würde sicher jede:r gern mit eigenen Augen sehen. Eine Zwischenüberschrift wie „Ute Lemper auf dem Scheiterhaufen der Kritiker“ (S. 137) weckt ebenfalls das Kopfkino – sollte aber vielleicht besser nicht bildnerisch dokumentiert sein.

Neben der Lust daran, sich dem Enthusiasmus der Schreibenden zu überlassen und ihnen auf ihren Wegen von Sprachwitz, Hintersinn, Provokation, Insider-Perspektive und „Kennst Du nicht? Selbst Schuld!“-Spielchen zu folgen: Was lernen wir aus diesem Buch?

Zunächst einmal wird deutlich, wie unterschiedlich die Gattung Musical in unterschiedlichen Kulturräumen und unterschiedlichen Zeiten gewichtet und praktiziert wird. Dass die Gründe dafür auch in den jeweiligen juristischen und gesellschaftlichen Umgangsweisen mit LGBTQ wurzeln, liegt nahe. Dennoch beeindruckt es, dass das Buch nicht nur den Einfluss der „Sodomy Laws“ auf die Geschichte des amerikanischen Musicals untersucht, sondern auch Einblicke in die nicht verbotenen aber de facto gesellschaftlich geächtete, auf der Bühne aber offenbar eher unproblematische Homosexualität in der DDR gibt, den gesellschaftlichen Umgang mit People of colour untersucht und sogar „Schwule Muslime im Musical“ thematisiert. Ohnehin ist das Panorama der Themen breit und oft überraschend. Neben einem Beitrag zu Minstrel Shows (Kevin Clarke), zu „Queeren Metamorphosen der Broadwayheilligen Richard Rodgers und Oscar Hammerstein II“ (Nick-Martin Sternitzke) und zur „Wiedergeburt des (Film-)Musicals“ (Kevin Clarke) finden sich auch die Frage nach einem „romantische[n] Musical über die schwule Pornobranche?“ (Interview mit Florian Klein) und das klare Statement „Musicals handeln davon, dass sich jemand gegen alle Widerstände behauptet“ (Interview mit Yousef Iskander).

Wie derart heterogene Themen im Rahmen einer populären und bewusst glamourösen Musikform auf die Bühne gebracht werden können, versteht man erst, wenn man akzeptiert, dass zur Definition der Gattung „die Ironie, das Augenzwinkern, die Selbstverständlichkeit, dass Darsteller:innen wissen, was sie tun“ (S. 11), einfach dazugehören. Mit ein bisschen teutonischem Selbsthass wird einige Male betont, dass so etwas lange Jahre in Deutschland und Österreich unmöglich schien. Neue Probleme entstehen, wenn „Der Beruf des Musicaldarstellers in Zeiten von Identitätspolitik“ (Til Randolf Amelung) aktuell gegen politische Überkorrektheit ankämpfen muss, d. h. Rollenbesetzungen unter dem erhobenen Zeigefinger von passgenauer Hautfarbe, ethnischer, religiöser oder eben auch sexueller Orientierung vorgenommen werden sollen, statt dem Theater das Vorrecht der Fantasie zuzubilligen.

Da hilft es, sich in Erinnerung zu rufen, dass LGBTQ-Musicals keineswegs nur von der Community geschätzt werden, ebenso wie die LBGTQ-Zielgruppe selbstverständlich auch in Mainstream-Musicals Andockmöglichkeiten findet und zelebriert. Gerade die glamouröse Traumwelt der Musical-Bühne, in der die Performance nicht weniger wichtig ist als die Musik und der Stoff, bieten ein Identifikations- und Selbstdefinitionspotential für alle Menschen: Sich in Charaktere hineinzufantasieren, die außerhalb gesellschaftlicher Normen stehen, in Grundsituationen von Ausgrenzung, unmöglicher Liebe und Selbstsuche Eigenes gespiegelt zu sehen und sich kollektiv aufgehoben zu fühlen in der Ikonisierung einzelner Stars wie Judy Garland oder Barbra Streisand – das ist unabhängig von erotischen Präferenzen ein ganz wesentlicher Teil des Zaubers, den das Theater und speziell die Gattung Musical auf so überwältigende Weise feiert.

Gleichzeitig geht es dabei aber auch um Codes und Subtexte, deren Verständnis zum Rückhalt in einer nur halb geheimen Gruppe ebenso beiträgt wie es individuelle Outing-Prozesse fördern kann. Dass solche Codes beim Übersetzen oft verloren gehen, führt Olaf Jubin in „Wo die Worte fehlen. Der schwule Liedtexter und wie er eingedeutscht wird“ pointiert vor. Was tun, wenn das spritzig-motivierende „Keep it gay“ zum dumpf-antiquierten „Mach‘ es warm“ (S. 144) wird? Vielleicht doch lieber das Schulenglisch aufpolieren? Dieser Sammelband könnte ein sinniger Anstoß dafür sein. Denn: „Manchmal muss jemand von außerhalb kommen und eine neue Sichtweise mitbringen […]. Außenseiter sind immer wichtig für Kultur, weil sie einen anderen Blick haben“ (S. 13), wie Barrie Kosky postuliert. Recht hat er! So gesehen ist es vielleicht sogar ganz gut, wenn das LGBTQ-Musical durch diesen Sammelband in Deutschland zwar ein wenig, aber noch nicht ganz aus seiner Außenseiterrolle herausgeholt wird – Denkanstöße inclusive!

Kadja Grönke
20.02.2023

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