Musik und Gesellschaft. Marktplätze. Kampfzonen. Elysium / Hrsg. von Frieder Reininghaus, Judith Kemp u. Alexandra Ziane – Würzburg: Könighausen & Neumann, 2020. – Band 1: Von den Kreuzzügen bis zur Romantik, 1000–1839; Band 2: Vom Vormärz bis zur Gegenwart, 1840–2020. ‑ 717 u. 700 S.: Abb.
ISBN 978-3-8260-6731-0 : € 68,00 (geb.)
Idee und Konzeption dieses Sammelwerkes mit 421 Beiträgen von 107 Autoren sind großartig, ihre Verwirklichung ist mit relativ geringfügigen Abstrichen als sehr gelungen zu bezeichnen. 1020 Jahre wenn nicht ausschließlich europäischer so doch weitestgehend global-nördlicher Musikgeschichte sollen hier unter der Perspektive ihrer gesellschaftlichen Bedingungen und sozialen Wirkungen dargestellt werden, aber nicht als Erzähl- und Interpretationsfluss aus einer Feder, sondern in Momentaufnahmen von in bestimmten Jahren zu datierenden und an bestimmten Orten zu lokalisierenden exemplarischen Ereignissen, Vorkommnissen und von damit verbundenen Frage- und Problemstellungen. Eine kritische, zudem reich bebilderte Sozialgeschichte der Musik also, die aus einer Hand und einem Guss wohl heutzutage weder möglich noch wünschenswert wäre. Abwechslung bereitet Vergnügen, und so liegen in den vielfältigen Darstellungs-, Argumentations- und Interpretationsformen der einzelnen Autoren der Gewinn, die Überzeugungskraft und die Würze dieser beiden voluminösen Wälzer. Nach einer zwölfsätzigen Ouvertüre, „aus der Tiefe von Zeit und Raum“ komponiert, in der Grundsatzfragen und immer wiederkehrende Aspekte des Themas abgehandelt werden, folgen insgesamt 23 zeitliche Abschnitte, deren imposante und instruktive, zudem bebilderte, stets doppelseitig und vorab gedruckte Resümees durchweg von Alexandra Ziane (für die ältere Zeit) und von Judith Kemp (für die neuere Zeit) formuliert wurden. Für die Unterkapitel fungieren im ersten Band fünf größere, gleich mehrere Jahrhunderte umfassende Zeiträume oder Kapitel als Zeitrahmen (mit großen Lücken zwischen den einzelnen Jahreszahlen der Unterabschnitte), im zweiten Band weitere fünf größere Zeiträume, in Jahrzehnte seit 1840 unterteilt (mit jeweils einem Beitrag pro Jahr). Das, was wir Geschichte nennen, hat im 19. Jahrhundert Fahrt aufgenommen, die mehrdimensionalen Ereignisse verdichten sich oder sind auch bloß besser dokumentiert, oder wir halten sie wegen ihrer größeren Nähe für wichtiger für unser heutiges Lebens- und Musikverständnis.
Über manche gewagte, illustre Überschrift für die gewählten Zeiträume, Zeitspannen, Jahrzehnte und einzelnen Jahre mag man staunen oder stutzen, sie erschließen sich zum Teil erst im Rückwärtsgang, wenn man die so betitelten Perioden und Abschnitte gelesen hat. Ihr wegweisender und thematisch übergreifender wie fixierender, das in der Zeit Versteckte erschließender Charakter wird dann kenntlich. Jeder Abschnitt, später jedes Jahr erhält in einem Vorspann die wichtigsten politischen, kulturellen und auf einzelne Komponisten und Musikwerke bezogenen Daten, auf die in dem zugehörigen Artikel Bezug genommen wird (oder auch nicht); zeitliche Rück- und Vorgriffe im Text auf frühere oder spätere analoge oder konträre Ereignisse werden als Daten in einer inneren Randspalte ausgeworfen, um die Sprünge im Kontinuum aufzuzeigen. Es ist also viel zur Orientierung oder Irritation des Lesers getan, und es führt stets ins Innere der schillernden geschichtlichen Fülle, die es aufzuzeigen gilt, mitten hinein in die feudalen, höfischen, klerikalen, bäuerlichen, bürgerlichen und proletarischen Milieus mit ihren aufregenden Widersprüchen, Gewohnheiten und Abhängigkeiten, in denen der eigensinnige musikalische Künstler sich um den Preis seines Untergangs mit seiner Kreativität zu behaupten hatte oder unterging. Etwas zu wenig wird der Untergegangenen oder heute Vergessenen, die meist soziale Konfliktfälle waren, gedacht.
Der für beide Bände gültige Anhang bringt das erforderliche Handwerkszeug zum Resümieren, Prüfen und Nachschlagen während der Lektüre in Form von Informationen über die Autorinnen und Autoren, über die Quellen, die verwendete und weiterführende Literatur, getrennt nach Nachweisen der Autoren für ihre jeweiligen Beiträge (sodass man schnell erkennen kann, worauf die Verfasser sich jeweils stützten und worauf nicht), des Weiteren über die Abbildungen und deren Nachweise. Zwei getrennte Register geben Auskunft über die in den Artikeln benannten Personen und Sachen. Soviel zur gelungenen, zweckdienlichen und gut handhabbaren äußeren Gestalt und inneren Gliederung der schwer in der Hand oder bequem auf dem Tisch liegenden Bände.
Dass diese mosaikartig montierte Collage von Einzelschilderung erfreulich viele „Alternativen zu eingebürgerten Sicht- und Hörweisen“(S. 7) ergibt, wie es das Vorwort verspricht, merkt man ziemlich schnell, wenn auch manchmal von sozialgeschichtlicher oder „linker“ Perspektive aus seltsame Übernahmen oder affirmative, unkritische Anknüpfungen an eingefahrene Festlegungen der bisherigen Musikgeschichtsschreibung unterlaufen. Dass es den Herausgeber(inne)n und Autor(inn)en gelungen ist, einigen der von Reinhold Brinkmann im Jahr 2001 geforderten Neuorientierungen der Musikforschung zu folgen, kann man mit Fug und Recht behaupten, vor allem, wenn man sich fragt, ob diese Bände für Köpfe musikinteressierter Laien geeignet wären. Ja, denn bis auf die an manchen Stellen unvermeidlichen Fachausdrücke wird hier kein akademisches Stroh gedroschen, sondern – mit wenigen Ausnahmen ‑ anschaulich erzählt und in einem sonst selten vorkommenden fröhlich-wissenschaftlichen Ton argumentiert. Manchmal geht manchem der feuilletonistische, stilverliebte Gaul durch, aber auch das sei erlaubt, denn die Alternative wäre, sachlich, trocken und langweilig zu schreiben, was interessierte neugierige Leser noch mehr abschrecken müsste als manieriertes oder mariniertes Fachchinesisch. Und so können die Herausgeber(innen) getrost aufmuntern: „Aber schauen Sie, geneigte LeserInnen, doch bitte selbst…“ (S. 8). Der Rezensent als geneigter Leser hat geschaut und findet die Kommunikationsebenen mit einem als auch laienhaft vorgestelltem potentiellem Publikum als angemessen; man darf sich „abgeholt“ vorkommen. Besonders sind viele der in der musikwissenschaftlichen Zunft üblich gewordenen Superlative und vorurteilsbehafteten Setzungen und Wertungen vermieden.
Schon das Vorwort der drei Herausgeber(innen) vollführt diese Lockerungsübungen erfolgreich. In den zwölf Essays der Ouvertüre ist diese Haltung schwerer durchzuhalten, zumal wenn in dem Beitrag von Hanns-Werner Heister über die Entstehung der melodischen Mehrstimmigkeit apodiktisch ‑ von materialistischen Setzungen Georg Kneplers ausgehend ‑ zwar von einer Entsprechung des alten Organums mit der Dreifelderwirtschaft gesprochen wird, aber die reale Verquickung von liturgisch-klösterlicher sowie weltlicher Musik in den frühen Motetten und ihren Stimmkombinationen verschwiegen wird. Mit der nachgewiesenen Literatur von Heinrich Besseler, Peter Gülke und Rudolf Stephan kommt man da auch nicht weiter und nicht auf den heute möglichen und nötigen Stand der Erkenntnis. Zeitliche Interpolationen mögen berechtigt sein, besonders, wenn man der Anforderung Brinkmanns gerecht werden will, dass „die Gegenstände der Vergangenheit aus ihren Spannungen hin zur Gegenwart“ (S. 8) verständlich werden sollen, aber es befremdet dann doch, wenn Reininghaus die Kunst der Trobadors und Trouvères mit ihrer Fernliebe vorwiegend an einer aktuellen Analogie, am Bespiel der Salzburger Uraufführung von Kaija Saariahos L’amour de loin im Jahr 2000 verdeutlichen will. Dieses allzu gegenwartsverliebte Vorgehen ist - als eine Art umgekehrter Historismus, der nicht den Geist vergangener Zeiten und konkreter historischer Situationen erkennen will, sondern die Gegenwart zum Maßstab aller Dinge macht – dann doch ein fragwürdiges Fetischisieren von Aktualität.
Federführend bleiben auch in den einzelnen Beiträgen quantitativ und qualitativ die drei Herausgeber(innen), und es ist im Rahmen dieser Rezension nicht möglich, auf die Unzahl positiver, erfrischender Entdeckungen und aufgedeckter Zusammenhänge einzugehen, inklusive der gebildeten Engführungen mit Literatur und Bildender Kunst, wie selbstverständlich mit gesellschaftlichen Verhältnissen als Voraussetzung und sozialem Bezugsrahmen von Kunstwerken, dabei das (re)agierende künstlerische Individuum mit seinem Eigensinn nie aus den Augen verlierend.
Drei der mir aufgefallenen Versäumnisse sollen nicht unerwähnt bleiben. Mehr als schön, nämlich dringend wäre es gewesen in der Zeitspanne des Vormärz und der 1848er Revolution des Musikpublizisten Theodor Hagen zu gedenken, der mehr noch als Heine mit seinen Berichten aus Paris, Hamburg, London und New York das deutsche Musikfeuilleton der 1830er bis -60er Jahre sozialkritisch aufmischte und 1846 die bedenkenswerte Schrift Zivilisation und Musik publizierte. In den frühen 1930er Jahren hätte man sich einen Hinweis auf die kurzlebige Zeitschrift Musik und Gesellschaft gewünscht, deren Namen diese Anthologie nur adaptiert hat. Als ein kleines Skandalon darf man wohl den Beitrag von Boris von Haken bezeichnen, der sich hier nochmals über einen von ihm selbst inszenierten „Fall Eggebrecht“ auslassen darf, den er mit unhaltbaren Anschuldigungen und mit seltsamer Protektion des Vorstands der Gesellschaft für Musikforschung lostreten durfte und dessen außerhalb der Zunft stattgefundene wissenschaftliche Debatte inzwischen ergab, dass es sich hier um einen gratismutigen enthüllungspolitischen Rohrkrepierer handelte, der das Ganze eher als einen „Fall von Haken“ erscheinen lässt. Mit Sicherheit hätte es über das Jahr 2009 Wichtigeres zu berichten gegeben.
Ansonsten und in der Hauptsache gilt: sich diese auch nach der Aufhebung der Subskription weiterhin wohlfeilen Bände anzuschaffen und darin genüsslich nach Interesse, Lust und Laune zu lesen oder sie auf lange Sicht immer wieder gelegenheitsbedingt aufzuschlagen, kann nur dringend empfohlen werden. Sie markieren sicher auch in späterer Zeit noch einen ersehnten ersten kleinen Wendepunkt in der deutschen Musikgeschichtsschreibung.
Peter Sühring
Bornheim, 30.12.2020