Aliya Turetayeva spielt Robert Schumann (Romantic Fantasies) [Peter Sühring]

Robert Schumann, Klaviersonate Nr. 2, g-Moll, op. 22 und Kreisleriana op. 16, Romantic Fantasies, Aliya Turetayeva, Klavier. –  KNS Classical (KNS A/090), 2020 (CD) : € 12,00 (zu beziehen über aliyapiano@gmail.com)

Die als Solistin ohne und mit Orchester und als Kammermusikerin auftretende kasachische, in Almaty, Köln und Salzburg ausgebildete Pianistin Aliya Turetayeva hat ihre Debut-CD vorgelegt. Damit, dass sie sich aus ihrem Repertoire von Scarlatti bis Schnittke mit Bedacht Stücke von Schumann ausgesucht hat, macht sie es sich gewiss nicht leicht. Im Gegenteil spielt sie hier auf Risiko, denn Schumanns 2. Sonate und der Kreisleriana-Zyklus gelten nicht nur technisch, sondern auch den musikalischen Ausdruck betreffend als einige der schwierigsten Tastenangelegenheiten. Dass diese CD unter dem Titel Romantic Fantasies vermarktet wird, mag ihre Verkaufschancen erhöhen, hat aber mit dem Inhalt und der Art, wie Turetayeva Schumanns Klaviermusik angeht, nicht allzu viel zu tun. Bei aller romantischen und phantastischen Expressivität hält sie nämlich eine erstaunlich distinguierte Klarheit der Artikulation aufrecht und geht sehr gewissenhaft und klug mit den Schumannschen Vortragsbezeichnungen um und hütet sich vor Übertreibungen.
Das beginnt gleich mit ihrer Lesart des ersten Satzes der 2. Sonate, die Schumann etwas paradox anmutend mit „So rasch wie möglich“ überschrieben hat. Die meisten Pianist(inn)en missverstehen dies als eine Aufforderung Schumanns zu sinnloser Raserei und fangen an zu jagen und zu dreschen, huschen, wischen und peitschen so über die Tasten, dass die Musik völlig konturlos wird. Nicht so Turetayeva: Sie hat begriffen, dass Schumann kein Hektiker oder mechanischer Teilchenbeschleuniger war und den Grad der größtmöglichen Raschheit immer an die jeweiligen Charaktere der musikalischen Passagen und der diversen Themen gebunden wissen wollte. Und die sind in diesem Satz innerhalb verschieden starker Strömungen der Tonflut, zwischen Sanglichkeit, Fanfare, energischen Tonrepetitionen, die den girlandenartigen Figuren in die Parade fahren und elegischen Einsprengseln sehr unterschiedlich und verlangen und vertragen jeweils nur ein eigenes spezifisches rasches Zeitmaß. Turetayeva zeigt, wie unterschiedlich „rasch“ sein kann, nie verkommt ihr ausdifferenziert rasches Traktieren der Tastatur zu einem mechanischen Kraftakt purer Schnelligkeit und Rasanz.
Alle möglichen Formen von rasch werden vor ihr, adäquat zum Verlauf der musikalischen Ereignisse, aufgeboten und vorgeführt. Sie kommt Periode für Periode allmählich in Fahrt, steigert die Raschheit über mehrere Phrasen und Phasen und nimmt sie auch wieder zurück, um erst gegen Schluss endgültig zu beschleunigen und sich die äußerste Temposteigerung für die Schluss-Stretta aufzuheben, als hätte Schumann auf einen Finaleffekt hin orientiert (auch der Schubertsche Erlkönig sollte nicht schon von der ersten Strophe an rasen). Zwar reizt Turetayeva die möglichen dynamischen Kontraste nicht aus, wird nie wirklich laut, dafür aber füllt sie diesen Satz in durchgehend moderaten mittleren Lautstärkevarianten mit einer Unmenge zauberhafter agogischer Rückungen und atmenden Zäsuren aus und lässt hören, woher die Töne kommen und wohin sie wollen. Stets bleibt der sprechende, noch sprachfähige Charakter der Musik erhalten. Alles perlt und rinnt und die einzelnen Kügelchen der Perlenschnur sind präzise hörbar.
Im dritten Satz der Sonate, einem Scherzo, vergisst Turetayeva neben dem „sehr rasch“ des Titels nicht den Zusatz „markant“ und spielt energisch, aber nur so rasch, dass die Markierungen nicht verwischen. Das gilt auch für das siebte der Kleisleriana-Stücke, wieder mit der Überschrift „Sehr rasch“, das meist nur heftig klimpernd heruntergehetzt wird. Turetayeva füllt auch dieses Stück mit innerem Leben, lässt es aufblühen und durch kleine Verzögerungen umso akzentuierter erklingen. Die oft bei Schumann asymmetrisch gesetzten Basslinien werden in ihrer ganzen kontrakarierenden Härte gespielt, aber nie schrill hämmernd überbetont, sodass auch sie von Turetayeva in eine insgesamt sensible, mitunter sich energisch aufbäumende Linie hineingezogen werden. Auch im dritten Stück der Kreisleriana liegt die im Titel verlangte Aufgeregtheit nicht im Tempo, sondern in der Agogik und dem hier erforderlichen Rubato. Endlich in den beiden mit „sehr langsam“ überschriebenen Stücken der Kreisleriana, wie schon im langsamen Satz der Sonate, entfaltet Turetayeva eine elegische und bedrohliche Stimmung, dehnt die melodische Linie ohne den Faden reißen zu lassen. Besonders behutsam geht sie mit den tiefen Lagen der grummelnden Bässe um, manches klingt ätherisch, wie nicht von dieser Welt, ohne dass es verzärtelt wird; klare Diktion ist das oberste Gebot ihres Spiels. Man hat den Eindruck, als wäre hier der vor der hochtechnisierten Beschleunigung lebende Schumann endlich zu sich selbst gekommen, und als hätte Turetayeva seine Klaviermusik von den kulturell bedingten Überlagerungen eines virtuosen Wahns befreit. Mit zentralasiatischer Weisheit klingen die romantischen Fantasien Schumanns hier wieder ganz menschlich, nah und nahegehend, soweit das auf einem modernen Konzertflügel mit seinen reduzierten Klangfarben möglich ist.

Peter Sühring
Bornheim, 17.10.2020

Dieser Beitrag wurde unter Rezension, Schumann, Robert (1810-1856) abgelegt und mit , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.