Holger Noltze: World Wide Wunderkammer. Ästhetische Erfahrung in der digitalen Revolution. – Hamburg: Edition Körber, 2020. – 251 S., zahlreiche S/W-Abb.
ISBN 978-3-89684-280-0 : € 20,00 (Hardcover)
Einer Pandemie hätte es nicht bedurft, um die Möglichkeiten digitaler Vermittlung und Verwendung von Musik zu diskutieren. Der Zufall aber hat es so gewollt, dass das neue Buch von Holger Noltze gerade dann zur Veröffentlichung anstand, als ein wildgewordener Virus das Leben überall auf der Welt lahmlegte. Und plötzlich war „Zoom“ für viele Menschen nicht mehr nur ein großartiges Gefühl, das Klaus Lage nach tausend und einer Nacht besang, sondern ein ganz praktisches Videokonferenzsystem. Die plötzliche Notwendigkeit, große Teile des beruflichen, sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in den digitalen Raum zu verlegen, führte zu einem immensen Kreativitätsschub, zeigte aber auch die Grenzen der Technik auf. Um bei den Videokonferenzen zu bleiben und einen Blick ins Musikzimmer zu werfen: Natürlich kann man diese Systeme zum Singen verwenden … vorausgesetzt, die Teilnehmenden einigen sich auf einfache Kanons und bauen die technisch bedingten Streaming-Verzögerungen in ihre Aufführung mit ein. Doch um gemeinsame Chorproben geht es in der vorliegenden Publikation nicht. Sondern um die Frage, wie die traditionellen Hüter der Kultur – Museen, Opernhäuser, Theater, Konzertsäle – ihre ureigensten Kompetenzen nutzen müssen, um im digitalen Wettlauf nicht auf der Strecke zu bleiben.
Als Holger Noltze mit der Arbeit an seinem Buch begann, ahnte noch niemand etwas von dem corona-bedingten Digitalexperiment der vergangenen Monate. Einen Bezug zu der aktuellen Situation konnte der Autor deshalb nur in den letzten Absätzen und in einer Anmerkung unterbringen. Somit handelt es sich bei der Publikation auch nicht um eine Reaktion auf die Pandemie, die der Verlag mit heißer Nadel gestrickt kurzerhand auf den Markt geworfen hat. Die Abhandlung baut auf längerfristigen Überlegungen auf, die weit in die Zukunft reichen dürften. Die Biografie des Autors belegt dies. Holger Noltze ist Musikjournalist, seit 2005 Professor für Musik und Medien an der TU Dortmund und darüber hinaus Mitgründer der Online-Plattform takt1.de, auf der Text-, Video- und Audio-Beiträge aus der Welt der klassischen Musik sorgsam kuratiert angeboten werden. Neben Buchveröffentlichungen über Goethe, Beethoven oder Wagner erschien 2010 mit der Leichtigkeitslüge ein Plädoyer für den „furchtlosen Umgang mit Komplexität“ (PR-Text).
Der Titel des vorliegenden Buches, World Wide Wunderkammer, weist sowohl auf die Grenzenlosigkeit des Angebots im Internet hin, präsentiert in der Formulierung „Wunderkammer“ jedoch bereits einen Lösungsansatz. Mit dem Abdruck einer Abbildung von Petrosilius Zwackelmanns Studierstube aus Ottfried Preußlers Räuber Hotzenplotz (S. 29) wird deutlich, wie Noltze sich einen Besuch im Netz vorstellt – zumindest für diejenigen, die an einer ästhetischen Erfahrung durch kulturelle und musikalische Phänomene interessiert sind. Wunderkammern (oder Kuriositätenkabinette, wie sie auch bezeichnet wurden) waren in der Vergangenheit nie reines Abbild der Welt, in der sie sich befanden. Sie waren eine Zusammenstellung verschiedenster Objekte, die die jeweiligen Kuratoren nach Laune, Zugänglichkeit, Fachgebiet oder schlichtweg Zufall auswählten. Die Gleichzeitigkeit scheinbar unzusammenhängender Artefakte machte den Reiz dieser Kabinette aus. Nach-, quer- und weiterdenken war unumgänglich und konnte sowohl kindliches Staunen als auch tiefe Erkenntnis befördern.
Holger Noltze schlägt vor, diese Wunderkammern auch im digitalen Raum einzurichten. Natürlich weiß er, dass es diese Räume schon gibt und weist einige von ihnen im ersten Teil seines Buches aus. Dabei geht es ihm weniger um eine Auflistung der besten Kunst- oder Musikseiten, sondern darum, Einzelfälle genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Auswahl ist subjektiv. Auch wenn Vollständigkeit nicht erreicht werden kann und dem Prinzip des Kuriositätenkabinetts ohnehin entgegensteht, so hätten der Sammlung durchaus noch einige Fallbeispiele gutgetan. Doch geht es Holger Noltze natürlich nicht um eine erschöpfende Linkliste, sondern um die strukturelle Dimension hinter den Angeboten. Denn nicht selten zählen zu den Produzenten dieser Webseiten und Apps große Technologieunternehmen oder Start-Ups, die das Sammelsurium der Inhalte über gut programmierte und für die Nutzer sinnvolle Algorithmen organisieren möchten. Der technischen und ästhetischen Problematik dieser Vorhaben widmet sich der Autor im zweiten Teil seiner Publikation, wenn er etwa das Geschäftsmodell des Streaming-Anbieters Spotify betrachtet. Für Noltze gibt es folgerichtig nur einen Ausweg, den er im abschließenden Teil beschreibt: Die früheren Gatekeeper der Musikvermittlung, tätig in staatlichen, akademischen oder journalistischen Bereichen, dürfen diese Aufgabe nicht länger den Tech-Firmen überlassen. Schließlich liegt der Wert von Musik nicht in Algorithmen oder Klickzahlen, sondern in der inhaltlichen Qualität, die erkannt, beschrieben, hinterfragt, verglichen werden muss. Diese Fähigkeit zur qualitativen Unterscheidung und zum Kuratieren ist eine Kernkompetenz gerade der Institutionen und Personen, die um die digitalen Wunderkammern bislang einen Bogen gemacht haben.
Noltzes Argumentation ist schlüssig und sicher auch das Ergebnis seiner eigenen Erfahrungen mit dem Online-Portal takt1.de, in dem er dieses Prinzip des Kuratierens seit Jahren erprobt. Bekräftigt wird der Anspruch der ästhetischen Erfahrung nicht zuletzt auch durch das ausgeprägte Sprachgefühl des Autors. Der feuilletonistische Stil, der sich mit den Schachtelsätzen und originellen Formulierungen nicht zum schnellen Querlesen eignet, erfordert eine dem Thema angemessene Aufmerksamkeit. Und doch wünscht man sich als Leser, dass der Autor noch weiter ausgeholt hätte. Etwa mit dem Gedanken, aus der Wunderkammer, die für Holger Noltze weniger Kuriositäten als kuratierte Meisterwerke enthält, ein Experimentalstudio zu entwickeln. Gerade die Interaktivität des Mediums Internet und die Möglichkeiten kollaborativer Partnerschaften, die jeden Nutzer zum Schöpfer machen, würden das Potential deutlicher zeigen. Eine verbesserte Playlist, die nicht nur auf Algorithmen und dem Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners basiert, sondern vom Expertentum der menschlichen Erfahrung und Intelligenz profitiert, greift zu kurz. Doch lässt sich diese Kritik zugegebenermaßen nach den letztmonatigen Erfahrungen mit den verschiedenen digitalen Möglichkeiten leicht formulieren. Holger Noltze aber schloss sein Manuskript ab, kurz nachdem der öffentliche Raum verwaiste und sich die Menschen überwiegend virtuell trafen. So soll dieser Einwand lediglich darauf hinweisen, dass die Ausstattung der Wunderkammern längst noch nicht abgeschlossen ist.
Michael Stapper
München, 01.07.2020