Peter Schneider: Vivaldi und seine Töchter. Roman – Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2019. –287 S.
ISBN 978-3-462-05229-9 : € 20,00 (geb.)
Die Kombination aus Wahrheit und Dichtung, Fakten und Phantasie ist in diesem „Roman eines Lebens“ über Antonio Vivaldi ganz reizvoll und dient vor allem dazu, die inneren Konflikte des komponierenden und die Waisenmädchen Venedigs zu virtuosen Musikerinnen ausbildenden rothaarigen Priesters anschaulich zu machen. Es waren mehrere Konflikte: 1. zwischen seiner Karriere als immer berühmter werdender Musiker und seinem vernachlässigten Priesteramt, der daraus erwachsenden raffinierten Observation durch die kirchliche Obrigkeit und ihrer Inquisitionsbeamten, 2. zwischen seinen Ämtern als Musiklehrer am Ospedale della Pietà (da gelegen, wo heute ein Luxushotel an der Schiavoni liegt) sowie als Impressario am Teatro Sant‘ Angelo und seinen zerbrechlichen Familienverhältnissen, 3. zwischen seinem priesterlichen Keuschheitsgelübde und seiner unvermeidbar sinnlichen Liebe zu der blutjungen Sängerin Anna Girò, die er nicht hätte ausleben können, ohne sich im heuchlerischen und intriganten Venedig der 1720 und 1730er Jahre zu ruinieren. Was den letzten Konflikt betrifft, bleibt Schneider erfreulich dezent und macht die Gründe für diese Haltung Vivaldis aus der allseits und auch bei Vivaldi selbst herrschenden Sündenvorstellung glaubhaft.
Insgesamt wahrhaft Stoff genug für einen brisanten und kostüm- und maskenreichen Venedig-Film, den der inzwischen verstorbene Hollywood-Kameramann Michael Ballhaus noch plante und für dessen Drehbuch er Peter Schneider gerne als Autor gewonnen hätte. Übrig geblieben ist von diesem Projekt der vorliegende Roman, zu dem Schneider sich ersatzweise, entflammt von dem hochdramatischen und hochmusikalischen Sujet, verführen ließ. Es gibt Stellen in diesem Roman, wo die Phantasie des Autors ihn nicht nur zu skurrilen und trotzdem plausiblen und genüsslichen Szenen beflügelt, sondern, wo sie einfach mit ihm durchgeht und peinliche und unglaubwürdige Konstellationen hervorbringt, die eher abstoßend wirken.
Schneider wählt zur Irritation des Lesers und zur punktuellen Erhöhung der Spannung unterschiedliche Erzählperspektiven. Ein sporadisch auftauchender Ich-Erzähler ist der distanzierte Historiker Schneider der 2010er Jahre, der fleißig sammelt und recherchiert und über Vivaldi und dessen Konflikte und grotesken Lebenssituationen in der Vergangenheitsform berichtet und fabuliert. Dann aber erzählt passagenweise (das Buch hat 52 kurze Kapitel!) ein Anonymus, der sich unmittelbar in das Geschehen hineingezogen sieht und in der Gegenwartsform erzählt, wie ein Nachbar, der atemlos berichtet, was er gerade Verrücktes mit Vivaldi erlebt hat. Auch verschränkt Schneider verschiedene Zeitebenen miteinander, was zu anachronistischen Verläufen und Konstellationen führt, die so nicht unbedingt möglich gewesen wären.
Im Falle der Sängerin Anna Girò entscheidet sich Schneider für die Variante, dass Vivaldi sie schon 1720 als Zehnjährige kennen gelernt hätte und nicht erst 1726 nach seiner Rückkehr aus Rom. Dies ermöglicht Schneider, auf eine abenteuerliche Weise das Mädchen Anna in eine Affäre mit einem Konkurrenten Vivaldis zu verwickeln, dem noblen Benedetto Marcello, der hier zu einem ekelerregenden Popanz aufgebaut wird. Eine effektvolle, aber verunglückte und denunziatorische Szene während einer in den Herbst verlegten Karnevalszeit (puh!) will den hier geduzten Benedetto M. als durchgeknallten Erpresser entlarven, der Anna auf einer Gondel übermannen will, mit Selbstmord droht und die Gondel gegen eine Barkasse steuert. Schön erdacht, wie Annannina den noblen Herrn zur Raison bringt.
Oft sagt man sich bei der Lektüre dieses Romans ‘ja, so oder ähnlich könnte es gewesen sein, diese Erfindung ist sehr wahr‘, nur bei allen Stellen, die Marcello betreffen, ist man entsetzt und fragt sich, wozu dieser angeschwärzte Marcello eigentlich dienen soll, außer die Spannung künstlich zu erhöhen ‑ allerdings auf Kosten einer historischen Figur, die das nun gar nicht verdient hat. Marcellos Psalmvertonungen sind ausgesprochen eigenwillige, historisch in ihrer Kompositionsweise exterritoriale wunderschöne Werke, in denen stellenweise althebräische liturgische Melodien verwandt sind, seine Instrumentalmusik (Sonaten und Konzerte) heute noch der Vivaldis ebenbürtig. Nur auf dem Gebiet der Oper könnte es tatsächlich sein, das Marcello auf den emporkommenden jungen Vivaldi, der sich nun auch auf dieses Genre mit Erfolg stürzt, etwas neidisch gewesen ist. Marcellos den venezianischen Opernbetrieb karikierende Satire Il treatro alla moda von 1720 (hier wäre eine Anspielung auf Mozarts Der Schauspieldirektor eigentlich angebracht gewesen) war aber sicherlich vor allem selbstironisch gemeint und nur nebenbei auch an seinen großen Konkurrenten Vivaldi adressiert. Dass Vivaldi darüber so empört gewesen sein soll, dass er sich bei seiner (auch nach der Chronologie Schneiders) erst zehnjährigen Schülerin, die er gerade erst kennengelernt hätte, ausweint und sie damit in die Kontroverse mit Marcello hineinzieht, ist äußerst abwegig und lässt einen die diesbezüglichen rasanten Szenen nicht recht genießen. In Wirklichkeit betrachtete Marcello seine Kompositionen als Nebenbeschäftigungen eines sehr geschäftigen höheren Angestellten der Stadtverwaltung und bezeichnete sich bescheiden als Nobile Veneto Dilettante di Contrapunto.
Was die musikbeschreibenden Glanzpunkte des Romans betrifft (schließlich kommt Schneider aus einem hochmusikalischen Freiburger Haus), so ist ihr poetisch-ästhetisierender Charakter bemerkenswert und in einem Musiker-Roman erlaubt und angebracht. Sie klammern sich aber leider zu sehr an die kanonisierten Hauptwerke, also an Die vier Jahreszeiten aus op. 8 von 1725 (ein Zyklus von 12 Violinkonzerten mit dem Titel Il cimento dell’armonia e dell’inventione), an La Folia und einige der berühmtesten Opern, um die von Vivaldi dressierte primadonna assoluta Anna Girò angemessen ins Spiel zu bringen. Dass Schneider die den vier Jahreszeiten-Konzerten beigefügten Sonette zweisprachig zitiert und als nachträglich ersonnen hinstellt, um der Phantasie der Hörer auf die Sprünge zu helfen, ist gut gemacht und erdacht, um diesen Konzerten ihren plumpen Charakter als mutwillige und vorsätzliche Programmmusik zu nehmen. Was den Ursprung und die Wirkung der portugiesischen Weise La Folia betrifft, ist die Unterscheidung zwischen der zeitgenössischen Praxis, diese schlichte, aber eindrucksvolle Melodie als Thema für fulminante Variationssätze zu benutzen (wie bei Corelli, Geminiani, Lully, Marais, Scarlatti, Vivaldi und Salieri) und einer anderen, meist späteren, sie lediglich assoziativ zu zitieren (wie in Bachs Bauernkantate oder im langsamen Satz von Beethovens 5. Sinfonie oder in Liszts Rhapsodie Espagnole) nicht scharf genug getroffen. Bei den Verweisen auf Schubert und Mozart kommt der musikhistorisch versierte Leser allerdings ins Grübeln und fragt sich, ob das ausgelegte Finten sind. Hier hätte man gerne Referenzen für die behaupteten Reverenzen gehabt.
Auch ansonsten will (und soll wohl auch) nicht alles musikhistorisch penibel genau stimmen. Schneider schreibt konsequent „Canale Grande“, obwohl den meisten Venedig-Fahrern spätestens beim zweiten Besuch auffallen müsste, dass sich dieser einzige große Kanal Venedigs auch im Venezianischen ohne e, also nur „Canal“ schreibt. Oder hat hier ein besserwisserischer Lektor hineingepfuscht? Aufs Ganze gesehen, bereitet dieser Musiker-Roman Vergnügen, ein anmutiger, gewitzter und besonnener Ton macht sich breit, erhöht die Neugier und kann das Interesse und das Wissen des Lesers erweitern, sofern er nicht alles glaubt und für bare Münze nimmt, was ihm hier erzählt wird. Vivaldi-Legenden gibt es schon genug, und dieser Roman räumt nicht auf, sondern stellt noch ein paar weitere Requisiten zur Verfügung.
Der Film nach diesem Roman wird nicht lange auf sich warten lassen und wird sicherlich jener Liebesszene zwischen Antonio und Anna nicht entbehren können, die Schneider nur andeutet und dem Prete rosso gönnerhaft wünscht, dass er sich seiner religiösen Hemmungen noch mutig habe entledigen können und die Naturgewalt der körperlichen Liebe wenigstens spät, während der Flucht aus Venedig, irgendwo auf dem langen, dunklen Weg nach Wien, während eines Unwetters noch habe erleben können.
Peter Sühring
Bornheim, 09.02.2020