Bernd Stremmel: Klassik-Prisma. Interpretationen auf Tonträgern im Vergleich. Beethoven [Jürgen Schaarwächter]

Bernd Stremmel: Klassik-Prisma. Inter-pretationen auf Tonträgern im Vergleich. Beethoven. – Köln: Dohr, 2018.
Bd. 1: Orchestermusik. Vokalwerke.  – 536 S. ISBN 978-3-86846-137-4 : € 49,80 (geb.).
Bd 2: Klavierwerke. Kammermusik.  – 267 S.  ISBN 978-3-86846-145-9 : € 29,80 (geb.)

Eine kommentierte Beethoven-Diskografie – eigentlich ein Desideratum zum Beethoven-Jahr 2020. Gerade in heutigen Zeiten, wo interessante und spannende Lesarten, Mitschnitte von Rundfunkanstalten oder Liveübertragungen von Konzertveranstaltern eben nicht mehr unbedingt über die üblichen Kanäle bedient werden, sondern per Streaming, Download oder On-Demand.
Bernd Stremmel war lange Jahre Musiklehrer und hat sich privat intensiv mit den kanonischen Komponisten klassischer Musik befasst. Seit 2004 betreibt er die Website Klassik-Prisma, auf der er einzelne Werke diskografisch erkundet. Die Betrachtungen der Interpretationen erfolgen unter Beiziehung der Partitur; er ist sich der Problematik der Momentaufnahme der Tonaufnahme ebenso bewusst wie der Problematik der Sicht auf das Werk: „Einer Interpretation, die nur die Strukturen der jeweiligen Komposition nachzeichnet, fehlt etwas Entscheidendes, die Atmosphäre. Musik auf Tonträger sollte auch die werkimmanente Atmosphäre vermitteln, wenn sie nicht steril erscheinen will. Alle Interpreten beherrschen das jeweilige Werk technisch, der Knackpunkt ist jedoch die Interpretation aufgrund des jeweiligen Notentextes.“ (Bd. I, S. 8). Stremmel teilt auch Informationen über die Wiederholung von Satzteilen mit – aber nicht, welchen Notentext er zu Grunde legt und ob die Wiederholungen auch heute noch dem Stand der Faktenkenntnis entsprechen.
Stremmel hebt hervor, dass er unabhängig die Interpretationen betrachte – und vermischt hier undifferenziert einen postulierten Einfluss der Tonträgerindustrie auf den Markt an Fachzeitschriften mit der seriösen Musikkritik selbst. Er betont aber auch, dass „jede Einordnung oder Bewertung […] letztendlich subjektiv [ist] und […] abweichende oder gegenteilige Ansichten nicht aus[schließe]“ (Bd. I, S. 8). So listet die vorliegende Veröffentlichung die dem Autor bekannten Einspielungen auch nicht chronologisch, sondern nach dem subjektiven Wertemaßstab des Verfassers. Die Wertungen (1 bis 5 Punkte, wobei die Zahlen statt der üblichen Sterne, Noten oder Stimmgabeln Schulnoten nahelegen und dadurch in die Irre führen) sind nicht nur hier häufig kaum kommentiert oder nachvollziehbar, als habe die Betrachtung dieser Interpretationen nicht mit ganz so vollem Herzen stattgefunden. Dies beeinträchtigt stark den Nutzen der Publikation, auch weil jedwede Register fehlen. Auch sind manche Wertungen des Verfassers schlicht nicht hilfreich: „Fast perfekt“ (Bd. I, S. 53), „helles Klangbild (Bd. II, S, 29), „gute Darstellung“ (Bd, II, S. 82), „pianistisch prima, Beethoven fordert jedoch noch mehr“ (Bd. II, S. 104), ohne weitere Erläuterung – was soll das dem Leser bringen? Gleichzeitig fällt auf, dass es bei manchen Interpretationen fast scheint, als zitiere Stremmel aus Tonträgerzeitschriften von vor vierzig Jahren: ähnliche Argumentation, ähnliche Wertmaßstäbe.
Nach dem Buchcover erwartet der/die/ interessierte HörerIn/LeserIn eine umfassende Erkundung von Beethovens Schaffen. Doch Stremmel legt sich (und allen Interessierten) nicht unbeträchtliche Einschränkungen auf: „Leider können nicht alle Konzerte, Sonaten etc. behandelt werden, sondern nur eine Auswahl. Eine vollständige Präsentation würde zwar dem enzyklopädischen Streben unserer Zeit entsprechen […], andererseits würde der Umfang des Buches noch erweitert und – was ich noch wichtiger finde – es würde wertvolle Zeit für die Beschäftigung mit bedeutenden Werken anderer Komponisten verloren gehen“ (Bd. I, S. 8). Dass man selbst diverse Klaviersonaten, Fidelio/Leonore und die Missa C-Dur op. 86 sowie zahllose Werke der Kammermusik (darunter alle späten Streichquartette außer op. 131) vergeblich sucht (und dass gerade bei diversen Kammermusikwerken die Kommentare deutlich zu knapp ausfallen), muss aber bedenklich stimmen. Ganz offensichtlich liegt Stremmels besondere Sammelleidenschaft eher auf dem Gebiet der Orchestermusik – und eine entsprechende Einschränkung hätte der gesamten Publikation (auch mit Blick auf die Platzfrage) besonders gut getan.
Problematisch ist insgesamt bei der Veröffentlichung das Ausgehen des Verfassers von seiner eigenen Sammlung und nicht von diskologischen Recherchen. So fehlen leider in vielen Fällen historisch entscheidende Interpretationen, während andere dem Autor liebgewordene Interpretationen, unbewusst wohl auch angesichts ihrer seinerzeit oder heute in der Presse vermittelten Bedeutung, über Gebühr in den Vordergrund gerückt werden.
Insgesamt bietet die zweibändige Publikation eine starke Widerspieglung ihres Verfassers – eine für den/die MusikliebhaberIn wirklich hilfreiche Handreichung ist sie gerade auch mit Blick auf die Vor-Urteile Stremmels nicht immer. Eins ist jedoch unübersehbar: des Autors große Liebe zu Beethovens Musik (vor allem der Orchestermusik).

Jürgen Schaarwächter
Göttingen, 09.02.2020

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