Maik Brüggemeyer: I’ve been looking for Frieden. Eine deutsche Geschichte in zehn Songs [Michael Stapper]

Brüggemeyer, Maik: I’ve been looking for Frieden. Eine deutsche Geschichte in zehn Songs. – München: Penguin, 2018. – 284 S.
ISBN 978-3-328-10286-1 : € 10,00 (Pb.; auch als eBook)

Geschichte wird über verschiedene Projektionsflächen sichtbar. Zeitgenössische Fotografien und Gemälde vermitteln durch den visuellen Eindruck ein Gespür für historische Prozesse; biografische Erzählung und wissenschaftliche Abhandlungen fassen diese in Worte. Und selbstverständlich lassen sich einzelne Begebenheiten und Entwicklungen aus der Vergangenheit auch über Klangräume erschließen. Diesen Weg wählt Maik Brüggemeyer in seiner neuen, mit der ungewöhnlichen Formulierung I’ve been looking for Frieden betitelten Publikation, die als Taschenbuch beim Penguin Verlag erschienen ist. Mit zehn Ohrwürmern in den Gehörgängen blickt der Autor auf ebenso viele gesellschaftliche Ereignisse und Zeitströme, die sich von den Nachkriegsjahren bis in die Jetztzeit über sieben Dekaden erstrecken.
Maik Brüggemeyer hat selbst nur knapp die Hälfte dieses Zeitraums persönlich erlebt. Der Autor wurde 1976 geboren und arbeitet nach seinem Studium der Politik-, Kommunikations- und Angewandten Kulturwissenschaft seit 2001 beim „Rolling Stone“, einem der renommiertesten deutschsprachigen Fachmagazine für Popkultur und Rockmusik. Darüber hinaus hat er zwei Romane verfasst, von denen der zweite, Catfish (2015), Bob Dylan in den Fokus nahm. Im September 2018 erschien im „Rolling Stone“ eine von Brüggemeyer verfasste Coverstory über Paul McCartney und Liverpool. In diesem etwas sentimentalen, aber überaus lesenswerten Beitrag verknüpft der Autor historische Begebenheiten, Liedzitate und aktuelle Geschehnisse und Empfindungen auf ähnliche Art wie in dem vorliegenden Sachbuch. Brüggemeyer könnte das Konzept von I’ve been looking for Frieden also durchaus auch auf die britische Geschichte übertragen. Das dies wahrscheinlich nicht passieren wird, liegt wohl auch an Stuart Maconie, der mit The People’s Songs – The Story of Modern Britain in 50 Songs genau dieses Buch bereits 2014 geschrieben hat und Brüggemeyer womöglich inspiriert haben mag. Ein Vergleich dieser beiden Publikationen ist durchaus lohnenswert.
Um nur einen der Unterschiede zu benennen: Wo Maconie 50 Lieder zitiert und die Betrachtung der Geschichte notwendigerweise kleinteilig wird, spannt Brüggemeyer den großen Bogen über einem Fünftel der Songs und Strömungen. Den Anfang macht, fast schon erwartungsgemäß, Rudi Schuricke. Die Sehnsucht der Deutschen, die Kriegs- und Nachkriegsjahre im Süden Europas zu vergessen, kann mit den Capri-Fischern fast schon als gesetzt bezeichnet werden. Etwas ungemütlicher wird es ein Jahrzehnt später mit Franz Josef Degenhards Bänkel-Songs. Nach den experimentelleren Klängen von „Can“ aus den 1960er Jahren geht es ohne Ruhepause in den 70ern mit der musikalischen Revolution von „Ton Steine Scherben“ weiter. Mit Nenas 99 Luftballons startet der Leser in die 1980er Jahre, die mit dem Mauerfall und Michael Hasselhoffs Looking for Freedom enden – zwar kein deutsches Klangerzeugnis, durch die sprachlich problematisch, gefühlt aber sinnfällige Ersetzung des Wortes „Freedom“ durch „Frieden“ (daher die Titelformulierung von Brüggemeyers Buch) aber in Windeseile eingebürgert und nicht mehr aus der deutschen Sound History wegzudenken. Die 1990er Jahre sind dem Techno, Marusha und ihrer Version von Somewhere over the Rainbow gewidmet; im Anschluss darf Rammsteins Engel nicht fehlen, auch wenn man auf das parallel dazu stattgefundene erstarkende Nationalgefühl liebend gerne verzichten hätte. Ähnlich kritisch wie die Berliner Rockband wird inzwischen der Sänger des nächsten Ohrwurms Dieser Weg, Xavier Naidoo, gesehen. Doch im Umfeld der Fußball-Weltmeisterschaft bleibt auch er Bestandteil der deutschen Musik- und Gesellschaftsgeschichte. Mit dem eher weniger bekannten Song Nichtstun von Balbina und einem gefühligen Appell an uns als Gesellschaft, die Suche nach dem Frieden in einer Zeit populistischer und nationalistischer Gefahren nicht aufzugeben, lässt Brüggemeyer schließlich den Plattenspieler auslaufen.
Drei Aspekte sind es, die Brüggemeyers Publikation auszeichnen. Da ist zum einen der geografisch-politische Raum. Der Hinweis auf dem Waschzettel des Verlags, es würde die Geschichte der „BRD“ erzählt, ist dankenswerter Weise falsch. Denn schließlich hat der Autor viele Blicke über die damals noch existierende Grenze geworfen hat, was in musikhistorischen Betrachtungen bis heute leider immer noch nicht Routine geworden ist. Zweitens formuliert Brüggemeyer in einem flüssigen, leicht lesbaren Feuilleton-Stil mit originellem Sprachwitz. Beispielhaft seien hier die Beschreibung der Rolling Stones in den 1960er Jahren („mit ihrem britisch-bleichen und streichholzbeinigen Rhythm and Blues“, S. 137) oder die der nicht immer leicht verständlichen Texte von Herbert Grönemeyer genannt („metaphorisch am Tor der Sinnbildung vorbeigezieltes Grönemeyer-Deutsch“, S. 230). Und schlussendlich schafft es Brüggemeyer durch seinen Ansatz, Geschichte durch Liedzitate, gesellschaftliche Fakten, eigene und erzählte Erinnerungen, Abschweifungen und Sprünge so zu verdichten, dass Bekanntes neu interpretiert wird oder sich vermeintliche Gegensätze zu einem stimmigen Mosaik zusammenfinden. Ein solches Paradestück ist die Einleitung zu dem Kapitel über Nenas Klassiker 99 Luftballons (S. 135ff), in der Brüggemeyer von der Berliner Waldbühne in den Nationalsozialismus springt, einen Umweg über Hermann den Cherusker in Kauf nimmt, zum Frauenbild von Josef Goebbels und Mick Jagger zurückkehrt, um dann doch noch im Jahr 1982 zu landen, als die Stones auf eben dieser Waldbühne Luftballons in den Himmel steigen ließen, was den Musiker Carlo Karges aus der Nena-Band zu dem bekannten Liedtext inspirierte. Nicht immer kommt Maik Brüggemeyer bei seinen gedanklichen Spaziergängen so unterhaltsam und doch prägnant zum Ziel, doch unterm Strich ist I’ve been looking for Frieden eine höchst vergnügliche und kurzweilige Lehrstunde aus dem oft so trockenen Geschichtsseminar.

Michael Stapper
München, 19.01.2019

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