Laurenz Lütteken: Mozart. Leben und Musik im Zeitalter der Aufklärung [Peter Sühring]

Lütteken, Laurenz: Mozart. Leben und Musik im Zeitalter der Aufklärung – München: C. H. Beck, 2017. – 296 S.: Abb., Notenbeisp.
ISBN 978-3-406-71171-8 : € 26,95 (geb.; auch als e-Book)

Dieses Buch rangiert unter dem vom Autor, Ordinarius für Musikwissenschaft in Zürich, selbst gewählten verborgenen Untertitel und Anspruch einer „intellektuellen Biografie“ Mozarts. Nun spielte zwar der Intellekt in Mozarts Leben und musikalischem Wirken eine sehr große, aber nicht die alleinige Rolle und vielleicht nicht einmal die dominante. Im Gegenteil fand er oft das Reden über Musik und das Machen von Musik als zu verkopft, als dass sie noch das hörbare, sinnlich reizende und zum Fühlen und Denken anregende Phänomen sein könne, das er sich als seine oder die von ihm bevorzugte Musik wünschte. In Mozarts unmissverständlicher, derber Sprache heißt das so: „machen sie ihr möglichstes, daß die Musick bald einen arsch bekommt – denn das ist das nothwendigste; einen kopf hat sie izt – das ist eben das unglück!“(Brief aus Paris an Abbé Bullinger in Salzburg am 7. August 1778, Mozart, Briefe, Bd. 2, S. 440). Dieser Beschwerdebrief an Bullinger bezog sich direkt auf die Diskussionen mit den Pariser Aufklärern, besonders mit ihrem von dort nach Deutschland aufgeklärte Ansichten exportierenden Anhänger Melchior Grimm. Mit dem hatte sich Mozart überworfen, weil er die Debatten über das, was die Musik von Vernunft wegen dürfe oder zu lassen habe, leid war. Mozart, der stets bereit und fähig war, die interessanten Eigenschaften der Musik mehrerer europäischer Länder und Schulen für seine Produktionen auszubeuten, konnte die Schulstreitereien und die Festlegungen und Einengungen, die man im Namen der Vernunft oder der Natürlichkeit oder des guten Geschmacks der Musik auferlegen wollte, nicht länger ertragen, zerstritt sich mit Grimm und verließ Paris, wo es ihm nicht gegönnt wurde, jene große französische Oper zu schreiben, die ihm nach Glucks Anregungen vorschwebte. Er schrieb sie dann, als in Paris sicherlich unaufführbares, italienische und französische Traditionen vermischendes monstre impossible zwei Jahre später für München unter dem Namen Idomeneo. Seltsam ist, dass Lütteken nur zu berichten weiß, es sei „aus unbekannten Ursachen zu einem Zerwürfnis“ mit Grimm gekommen, „in dessen Folge Mozart abreiste“ (S. 270). Die in Paris vorherrschende, hyperaufgeklärte unglückliche Verkopfung der Musik und deren Kopf Grimm kann als Ursache des Zerwürfnisses und der Abreise unschwer ausgemacht werden, zusätzlich etlicher gegen Mozart laufender Intrigen, die nicht auszuschließen sind und über die es auch Beschwerden Mozarts gibt. Der Streit mit Grimm ist ziemlich genau, also so genau wie möglich, von Georg Knepler in seinem Mozart-Buch von 1991 (dort S. 70‑84) rekonstruiert worden, das Lütteken etwas vorschnell als „überschattet vom Willen zum strengen und blinden ideologischen Vorurteil“ (S. 9) abklassifiziert und nicht weiter verwendet.
Dieses Beispiel könnte einen Hinweis darauf geben, dass Lütteken dazu neigen würde, Umstände auszusondern, die auf Mozarts mindestens ambivalente, wenn nicht punktuell eindeutig negative Einstellung zur Aufklärung und deren Anmaßungen in Bezug auf die Musik hindeuten. Aber die Bedenken gehen noch weiter. Gab es überhaupt in den durchmischten Lebenswelten Mozarts, zumal im deutschen Raum, überhaupt ein abgrenzbares „Zeitalter der Aufklärung“? Die deutsche Verspätung auch in Sachen Aufklärung miteingerechnet, war es da nicht eher so, dass Aufklärung hierzulande (und das gilt auch für die Lebenswelt Mozarts im josephinischen Wien in den 1780er Jahren) mit den Strömungen des Sturm und Drang und der Empfindsamkeit verquickt war und nur zusammen mit diesen Elementen eine Epoche bildete? War es nicht so, dass Mozart, von Mannheim nach Paris kommend, noch ganz erfüllt war von den Tendenzen des musikalischen Sturm und Drang, den Mannheimer Crescendi, Raketen und Melodramen, was sich in etlichen seiner Werke, die er zwischen den Mannheimer und Pariser Erfahrungen sowie seinem Aufbruch nach Wien und auch dort noch komponierte, niederschlug? Wir verfügen über die von Lütteken zu Recht als „Grenzregionen“ des Mozartschen Schaffens bezeichneten Opern Così fan tutte und Die Zauberflöte (S. 52), in denen die aufgeklärte Poesie Da Pontes und Schikaneders auf eine Mozartsche Weise eine „gehorsame Tochter“ der Musik bildet, welche sich selbst als planvoll-künstlerische Instanz der Vernunft entfaltet. Ob diese Produkte von Grenzsituationen musikalischen Denkens in einem aufgeklärten Sinne allerdings wirklich ein Resultat der gesellschaftlichen Situation im Wien der 1780er Jahre waren, in denen angeblich „radikale Reformen, entgrenzte Toleranz und lebhafter Meinungsaustausch in Publizistik und Salon“ (wie der Klappentext euphemistisch verheißt) geherrscht haben sollen, gewesen sein können, darf bezweifelt werden. Dazu fühlte eine freie Künstlernatur wie Mozart sich wahrscheinlich selbst noch im Wien josephinischer (also von oben gelenkter, revolutionsprophylaktischer) Reformen eines absolutistischen Hofes mit Zensur und Gesinnungsspitzeleien noch zu sehr beengt und geschurigelt.
Dennoch ist Lütteken, aller mitgeteilten Selbstzweifel über die Möglichkeit, ein wirklich nötiges und brauchbares neues Mozart-Buch zu schreiben, zum Trotz, ein wichtiges und in Zukunft unentbehrliches Mozart-Buch gelungen, das in seiner stringent argumentierenden Anlage eine Mozarts Musik erhellende Akzentverschiebung zugunsten eines reflektierten Umgangs mit ihr vornimmt. Das Erstaunliche an diesem Buch ist nicht das Auftischen neuer Funde und Thesen, sondern das Beleuchten vieler bekannter alter Tatsachen und zitierfähigen Haltungen und Meinungen Mozarts und seiner Zeitgenossen in einem neuen Licht, eben dem einer heute immer noch nötigen Aufklärung über das innere Wesen der Musik selbst. Das betrifft das Verstehen von Musik auch jenseits von analytischer Rationalität (Mozart komponierte nicht nur für jene, die man schon damals „Kenner“ nannte) und wird besonders im ersten Kapitel („Voraussetzungen“) und im sechsten („Inszenierungen“) abgehandelt. Hier ragt vor allem der Abschnitt über „Beseelte und seelenlose Musik“ hervor.
Lebenswelten, Lebenspraxis, Horizonte, Haltungen und Wahrnehmungen Mozarts werden in fünf weiteren Kapiteln speziell und spezifisch und damit bewusst auf eine einzige Fragestellung hin ausdifferenziert und auf das Mozart umgebende aufklärerische Potenzial hin befragt und dargestellt. Mozart war sicher selbst kein Aufklärer im Sinnen einer Schule oder Epoche, er betrieb eine eigenwillige Aufklärung durch Musik und nutzte die Postulate der ideologischen Aufklärung seiner Zeit nur, soweit sie ihm künstlerisch wertvoll und produktiv schienen. Mozart folgte in seiner Praxis eher Rousseau, der als Aufklärer schon über die Aufklärung und ihre rationalistischen Grenzen hinaus gedacht und das sinnlich berührende Element der Musik zumindest theoretisch wieder in sein Recht gesetzt hatte. Lütteken hat Rousseaus Melodram Pygmalion einen der sinnvoll-schönsten Abschnitte seines Buches gewidmet.
Lütteken hat sich die Mühe gemacht, in einem 27-seitigen „Biographischen Index“ eine Unmenge interessanter Informationen über Zeitgenossen Mozarts zu liefern, deren Leben auf sehr unterschiedliche Weise mit dem Zeitalter der Aufklärung und dem Schaffen Mozarts verknüpft war. Darüber hinaus gewähren die angehängten Abschnitte: Dank, Anmerkungen, Literaturhinweise, Nachweise der Abbildungen und Notenbeispiele, Register einen tiefen Einblick in die umsichtige, langwierige und skrupulöse Arbeitsweise des Autors. Außerdem enthält sich das Buch weitgehend einer bestenfalls für Leute vom Fach verständlichen musikwissenschaftlichen oder ästhetischen Terminologie, es redet Klartext ohne seine Wissenschaftlichkeit zu verleugnen.

Peter Sühring
Bornheim, 30.12.2018

 

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