Quander, Georg: Opernland Nordrhein-Westfalen / Hrsg. von der Freien Volksbühne Köln e.V. – Köln: Wienand, 2018. – 502 S.: zahlr. Farb- und s/w-Abb.
ISBN 978-3-86832-461-7 : € 36,00 (geb.)
Deutschlands bevölkerungsreichstes Flächenland hält neben dem demographischen Rekord auch einen kulturellen: Mit 13 Opernhäusern bzw. 15 Spielstätten ist Nordrhein-Westfalen das wohl konzentrierteste Opernareal weltweit. Ergibt sich hieraus zugleich eine spezielle, NRW-typische Chronik mit Sonderentwicklungen, Wechselbeziehungen und aktuellen Befunden? Positiv bejaht, und zwar mit einer großzügig illustrierten Opernhistorie der Rhein-Ruhr-Schiene, hat dies nun der frühere Kölner Kulturdezernent Georg Quander, Szenekenner und –gestalter, prädestiniert durch Funktionen als langjähriger Intendant der Deutschen Staatsoper Unter den Linden Berlin, Rundfunkredakteur ebendort, nicht zuletzt als Fachjournalist oder Regisseur für Film und Oper. Zurück an der Spree, ist dem gebürtigen Düsseldorfer das Schicksal des traditionsreichen Potentials zwischen Münster, Bielefeld, Bonn, Aachen und Krefeld ein Herzensanliegen, für das er neben den tragenden Kommunen auch das titelgebende Bundesland – über den anteilig geringen Zuschuss hinaus – in der Verantwortung sieht.
Die Kommunen: Gerade ihnen und ihrer konkurrenzfördernden Ballung im heutigen NRW verdanken Kulturbesessene die unvergleichliche Palette und den entscheidenden Unterschied zu den übrigen bundesdeutschen Opernzentren. Avancierten andernorts die Opernhäuser aus fürstlicher Hofhaltung nach dem Abgang des Adels 1918 zu Staatstheatern in Landesverantwortung, so wurzelt der kontinuierliche Opernbetrieb an Rhein und Ruhr in der Initiative des Kultur- und Industriebürgertums und verbleibt mit allen Höhen und Tiefen seit je in städtischer Eigenregie. Operngeschichte, geographisch und regional definiert, spiegelt zwangsläufig politische Geschichte. Und so sind es die großen historischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Umbrüche, die in Quanders Narrativ auch die Etappen der Institution Oper auf NRW-Terrain markieren. Mag der Beginn im Feudalzeitalter der Kurfürsten noch nichts vom späteren Bindestrichland erahnen lassen, erkennt man an den verflossenen Territorien wie Kurköln und Königreich Westfalen mithin schon die Vorboten der späteren und heutigen Verwaltungseinheiten.
Vor allen zeitgeschichtlichen Hintergründen ist Operngeschichte vor allem eines: die Analyse und Rezeption eines Gesamtkunstwerks – erst die administrative Planung, dann die architektonische und bauliche Ausführung, die Organisation und Repertoiregestaltung durch die Intendanz, das Ausbalancieren von Standardrepertoire mit Rarem wie Neuem, Rekrutierung und Führung des vokalen und instrumentalen Apparats, die musikalische Leitung und Einstudierung, die Inszenierung mit Bühnenbild und Kostümen, überregionale Ausstrahlungen, Ausnahmeereignisse, die Publikumsresonanz. All dies scheint hier zu einem klug austarierten Netz auch der Vergleiche und sinnstiftenden Übergänge verknüpft. Ungern möchte man derartiger Fülle an Information und Metierkunde das Etikett des Populärwissenschaftlichen anheften. Zutreffend ist es hier jedoch in bestem Sinne: Wissenschaftler und Kenner finden Impulse zur Vertiefung und Nachbearbeitung, durchgängige Belege verwendeter Literatur, ausgedehntere Zitate aus Quellen, Dokumenten, Rezensionen und Presseberichten. Den Liebhaber oder Opernneuling lädt ein flüssiger, abwechslungsreich berichtender Stil zu einer spannenden Erlebnisreise durch kulturgeschichtliche Höhen und Tiefen.
Die gegenwärtigen Finanznöte und Kostenexplosionen, kulminierend in der Kölner Opernsanierung, kennen selbst Klassikfeinde aus der Tagespresse. Gute alte Zeiten auf einer Insel der Opernglückseligkeit aber gab es nie. Einleitend überschreibt Quander das nordrhein-westfälische Opernwunder: „Stabil ist nur seine Instabilität. Der permanente Wechsel ist sein Lebenselixier.“ (S. 12). So nahm das Bürgertum schon während der kurzzeitigen Blüte der kurfürstlichen Theater in Düsseldorf, Bonn und Münster tatkräftig das Heft in die Hand, eigenständig schon in Aachen, Köln und Krefeld, im Fortgang während der Napoleonischen Kriege, auf eigene Faust dann definitiv unter preußischer Regierung. Diese machte es den Trägern und Ausführenden nicht leichter. Hoftheater wurden keineswegs königlich vom Monarchen versorgt, vielmehr überließ man sie den Sitzstädten. Akteure blieben überwiegend die reisenden Theatergesellschaften. Im Pachtsystem trugen die Direktoren das volle Risiko und scheiterten oft reihenweise. Obgleich nicht ohne wirtschaftliche und organisatorische Schwankungen, erfreute sich einzig Detmolds Hoftheater langfristig der sicheren Finanzierung durch das Fürstenhaus, das erst 1918 das Feld dem Freistaat Lippe räumen musste. (Dass Lippe sich 1945 unter den Alliierten territorial zu Nordrhein-Westfalen gesellte, bescherte diesem das heutige Landestheater, seines Zeichens größte Reisebühne Europas.)
Verbucht die Industrialisierung im Gründerboom mit dem Aufstieg einer vermögenden Oberschicht die Gründung von nicht weniger als 14 großen Theatern zwischen 1872 und Erstem Weltkrieg, beginnt zugleich der Übergang vom Unternehmer- zum subventionierten Theater. Symptomatisch damals wie heute: NRW-Theater als „Geschichte der Theaterehen und Theaterscheidungen, der Bühnengemeinschaften und Zweckbündnisse“ (S. 93). Nach 1918 kommt das endgültige Aus für das pachtbasierte Opernsystem des 19. Jahrhunderts. Subventionen ermöglichen die Ansprache breiterer Publikumsschichten und das vom kommerziellen Druck entlastete Experiment mit Stilbühne und Expressionismus in Musik und Szene. Der Sturz von den Goldenen Zwanzigern in die Weltwirtschaftskrise reißt auch die Theater in den Sog der Depression, die im NS-Staat in einen sonderbaren Ausnahmezustand übergeht: finanzielle Rettung durch das Regime um den Preis der Gleichschaltung, Instrumentalisierung zwecks Umerziehung des Volkes, Repressalien gegen Juden und andere Unerwünschte, begleitet von einer Anpassung des Leitungspersonals – Rechercheergebnisse, über die sich der Autor unlängst in einem Interview noch erschüttert zeigte. Konkret werden in diesem Kontext: „Säuberung“ des Repertoires, NS-konforme Auftragswerke, restaurativer Inszenierungsstil, sterilisierend verstümmelnde Außen- und Innenarchitektur, Dominanz der Werke Richard Wagners.
Wie in der Politik frappiert auch kulturell die praktisch kaum vermeidliche Rückkehr NS-belasteten Personals in die Riege der Intendanten, die beim Wiederaufbau der Wirtschaftswunderjahre in modern und funktionell konzipierte Neubauten einzogen, das unter den Nazis verlorene Terrain zurückeroberten und stabile Erfolgsbilanzen bis hin zur internationalen Spitze initiierten. Ästhetische wie ökonomische Fragen und ihre Bewältigung durch Reformen treten detaillierter in den Fokus, wenn es im Strukturwandel, exponiert an der Ruhr infolge Steinkohlekrise, ab den 60-er Jahren zu grassierender Theatermisere kommt. Die durch Sozialausgaben gebeutelten Kommunalfinanziers sparen notorisch zulasten der „freiwilligen Leistungen“. Als Zeuge und Zeitgenosse spitzt Quander sukzessive die Feder und legt mit kritischen Spitzen Richtung Kulturpolitik und -management plausibel begründend eine Schippe drauf. Nach der Wiedervereinigung drohte gar eine Berlin-Dominanz. Quander zur Reaktion NRWs: „Das Land aber unternahm, bis auf das Feilschen um die Ausgleichsvereinbarungen, nichts.“ (S. 318). Bei Redaktionsschluss reicht die Qualitätsskala im zeitweiligen Opernparadies schlechterdings von mittlerem Niveau über kleinkalibrigeren Standard bis „mit dem Rücken zur Wand oder (…) unmittelbar am Abgrund.“ (S. 371) Ende offen. Aber sachte: Nach Redaktionsschluss ist vor Redaktionsschluss. Ein nachgereichtes Postskriptum referiert eiligst noch den Lichtblick, dass die Landesregierung ihre Förderungen bis auf 50 Millionen Euro im Jahr 2022 hochfährt. Freuen würde man sich über weitere gute Nachrichten zur individuellen Profilierung der Häuser, positive Synergien und auf eine bewährt kompetente, jedoch in unzähligen orthographischen Einzelheiten korrigierte Fortschreibung aus der Feder Quanders. Anreize böten zudem ein Schuss mehr Vergleichsinfo zu europäischen und internationalen Opernwelten und reziprok einige Schlaglichter auf die nicht inaktive Opernprovinz im Lande.
Nach vier Fünfteln in sich konsistenter Monographie mit Anmerkungen, Literatur- und Quellenangaben, Personenverzeichnis und Zeittafel folgt entsprechend aktuell ein separater Serviceteil unter der Rubrik „Informationen zu den Spielstätten“. Für jede einzelne destilliert Quander jeweils einen erneuten, kurzgefassten historischen Abriss heraus. Die aktuelle Lage skizzieren durchdachte Eigenprofile pro domo. Mit Selbstporträts und Kontaktdaten steuern die Fördervereine ihre Visitenkarte bei. Praktische Informationen (Ticketpreise, Anfahrt, Saalplan u.a.) laden zum Besuch.
Andreas Vollberg
Köln, 19.12.2018