Matti Friedman: Wer durch Feuer. Krieg am Jom Kippur und die Wiedergeburt Leonard Cohens / Aus dem Engl. übersetzt von Malte Gerken. – Leipzig: Hentrich & Hentrich, 2023. – 198 S., zahlr. SW-Fotos
ISBN 978-3-95565-612-6 : € 22,00 (brosch.)
Israel wird angegriffen. Am Tag des höchsten jüdischen Feiertags, Jom Kippur, eröffnen Streitkräfte benachbarter Staaten im Süden und Norden das Feuer. Der überraschende Überfall löst einen weiteren Krieg in und um Israel aus, der wenige Wochen später mit einem Waffenstillstand endet. In der Reihe der vielen Auseinandersetzungen zwischen Israel und seinen Nachbarn, oft als „Nahostkonflikt“ verharmlost, werden die Tage im Oktober 1973 als „Jom-Kippur-Krieg“ bezeichnet.
Genau 50 Jahre später beschäftigt sich der kanadisch-israelische Journalist und Autor Matti Friedman mit einem Teilaspekt dieses Krieges, wenn er den Spuren des ebenfalls aus Kanada stammenden Sänger Leonard Cohen in die Kampfgebiete folgt. Zeitgleich mit der Veröffentlichung von Wer durch Feuer, fast auf den Tag genau ein halbes Jahrhundert nach dem Angriff ägyptischer und syrischer Soldaten, fallen Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation Hamas aus dem Gazastreifen heraus in israelische Siedlungen und Dörfer im Grenzgebiet ein, töten mit beispielloser Brutalität über 1.100 Menschen und entführen rund 250 Personen nach Gaza. Dieser terroristische Überfall löst eine heftige Gegenreaktion israelischer Streitkräfte aus. Ziel ist es, die Terrororganisation zu vernichten. Die Zahl der Opfer bei der Hamas, vor allem aber bei der Zivilbevölkerung ist immens. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Rezension ist noch kein Ende der Kampfhandlungen absehbar.
Die Duplizität der Ereignisse ist erschreckend und verstörend. Friedman schildert die Stunden vor dem Angriff ägyptischer Streitkräfte in einer israelischen Radarstation in Sharm El-Sheikh. Junge Frauen und Männer verrichten dort ihren Dienst. Die Stimmung ist von Zuversicht geprägt, von Optimismus und dem Glauben an eine offene und positive Zukunft. Schallplatten, Gitarren, Badekleidung – die Szenerie gleicht eher einem Urlaubscamp als einem militärischen Stützpunkt. 50 Jahre später ist es ausgerechnet der Ort eines Musikfestivals, an dem mehrere Hundert Menschen von der Hamas ermordet werden. Diese Gleichzeitigkeit der Erinnerung und des Erlebens wird die Lektüre begleiten und die Rezeption erschweren.
Was aber ist die Ausgangssituation von Friedmans Buch? Welchen Blick wirft der Autor auf den Krieg und den Protagonisten Leonard Cohen? Von dem legendenhaften Status, den der Singer-Songwriter in den Jahrzehnten vor seinem Tod 2016 erlangt hat, ist Cohen 1973 noch weit entfernt. Der Beginn seiner Musikkarriere liegt nur wenige Jahre zurück. Zuvor hatte Cohen als Schriftsteller mehrere Werke veröffentlicht. Songs wie „Suzanne“ oder „Bird on the wire“ waren in Folk-Kreisen überaus beliebt, beim Isle-of-Wight-Festival 1970 tritt er vor einer riesigen Menschenmenge auf. Da anhaltende Erfolge ausbleiben, zweifelt der 39jährige Sänger an sich selbst. Als der Jom-Kippur-Krieg ausbricht, befindet sich Cohen mit seiner Familie auf der griechischen Insel Hydra und denkt darüber nach, seine Musikerlaufbahn aufzugeben. Nun aber, getrieben von dem Wunsch, Israel in dieser schweren Zeit beizustehen, macht sich der aus einer orthodoxen jüdischen Familie stammende Cohen sofort auf den Weg. Seine Absicht ist es nicht, im Rahmen einer staatlich oder militärisch organisierten Truppenbetreuung für die Unterhaltung der Soldatinnen und Soldaten zu sorgen. Cohen hat noch nicht einmal seine Gitarre dabei. Im Grunde ist er planlos, könnte ebenso in einem Café oder in einem Kibbuz arbeiten.
Anhand von zeitgenössischen Berichten, bisher unveröffentlichten Texten Cohens und Erinnerungen von Zeitzeugen gelingt es Matti Friedman, diese bislang weitgehend unbekannte Episode sehr detailliert zu beschreiben. Der Rechercheaufwand ist beachtlich, nicht zuletzt deshalb, weil der Sänger stets selbst zurückhaltend mit Informationen über seine Zeit im Krieg war. Leonard Cohen schließt sich einer Gruppe von Musikerinnen und Musikern an, die den Truppen in die Gefechtsstationen folgen, auf Ladeflächen von LKW oder im Wüstensand improvisierte Bühnen errichten und den Soldatinnen und Soldaten ein wenig Ablenkung zwischen den Kampfhandlungen ermöglichen. Matti Friedman rekonstruiert die Ereignisse, ordnet Cohens Auftritte chronologisch und setzt die Erlebnisse mit der künstlerischen Auseinandersetzung des Sängers in Beziehung. Sein Bericht ist klar an Leonard Cohen und dessen Tour in den Kampfgebieten ausgerichtet. Durchgehend im Mittelpunkt steht der Sänger in den Schilderungen der einzelnen Episoden jedoch nicht. Als Mitglied einer Musik-Gruppe ist er Teil der Gemeinschaft und damit eingebunden in die militärischen Strukturen. So begegnen den Leserinnen und Leser über den Text und vor allem auch über die zahlreichen Fotografien viele Menschen aus dem musikalischen Umfeld, dem Publikum und den kämpfenden Einheiten. Vor dem Hintergrund des aktuellen Krieges mit seinen Bildern des unerbittlichen Häuserkampfes wirken diese Fotos aus dem Sinai bisweilen anachronistisch. Fast wirkt es wie ein Sommercamp, wenn sich die jungen Soldaten im Wüstensand zusammenfinden, um der Band zuzuhören. Auch in der Charakterisierung einzelner Protagonisten und deren militärischer Leistungen meint man eine unterschwellige Bewunderung zu spüren, die im krassen Widerspruch zu der Brutalität der Ereignisse steht. Doch diese wird von Friedman nicht ausgespart. In knappen und klaren Beschreibungen erinnert er immer wieder daran, dass sich die Menschen in einem tödlichen Krieg und damit in einer lebensbedrohlichen Situation befinden.
Friedmans Schilderung ist nicht zuletzt deswegen beeindruckend, weil sie verschiedene Schichten der Ereignisse – die politisch-militärische Lage, Cohens Lebenskrise und künstlerische Wandlung, das gesellschaftliche und religiöse Umfeld – miteinander in Beziehung setzt. Besonders gilt dies für die Betrachtung des Songs Who by fire, der ein Jahr nach Cohens Aufenthalt in Israel veröffentlicht wurde und Friedmans Buch seinen Titel gab. Der Sänger bezieht sich konkret auf seine spirituellen Wurzeln im Judentum, wenn er mit dem Lied eine eigene Version des hebräischen Textes Unetaneh tokef erschafft, das traditionell an Jom Kippur gebetet wird. Bis heute zählt dieses Lied als künstlerische Auseinandersetzung mit den Ereignissen in Israel zu den bekanntesten Stücken Cohens. Und auch im aktuellen Krieg gewinnt es erneut traurige Bedeutung, wenn Israelis es singen, um ihrem Leid einen Ausdruck zu geben.
Michael Stapper
München, 18.01.2024