Klangkultur und musikalische Interpretation. Italienische Dirigenten im 20. Jahrhundert / Hrsg. von Peter Niedermüller. – Kassel: Bärenreiter, 2018. – 158 S.: Notenbsp., Tab. (Analecta musicologica ; 54)
ISBN 978-3-7618-2140-4 : € 61,00 (geb.)
Die Erforschung musikalischer Interpretation geht heute zumeist von zwei Perspektiven aus – von ausgewählten Werken, die einer vergleichenden Sicht dienen, oder von ausgewählten Interpreten. Der Untertitel der vorliegenden Publikation lässt die zweite Perspektive vermuten: italienische Dirigenten im 20. Jahrhundert aus allen Bereichen des Musiklebens.
Natürlich ist die Sache nicht so einfach. Die acht ausgezeichneten musikwissenschaftlichen Beiträge ausgewiesener Kenner der Materie betrachten in dem schmalen, aber teuren Band nicht nur eine Auswahl italienischer Dirigenten – sie betrachten vielmehr eine bedenklich schmale Auswahl. Namen wie Aldo Ceccato, Giuseppe Patanè, Fabio Luisi, Marcello Viotti, Lamberto Gardelli, Alberto Zedda oder Riccardo Chailly werden nicht berücksichtigt, ebenso wenig die jüngere Generation Gianandrea Noseda oder Antonio Pappano; auch Bernardino Molinari, Alberto Erede, Guido Cantelli, Francesco Molinari-Pradelli oder Riccardo Muti finden gerade jeweils einmal Erwähnung. Hier rächt sich die Tatsache, dass der Herausgeber des vorliegenden Tagungsberichtes Rom April 2012 in der seither verstrichenen Zeit keine ergänzenden Beiträge akquiriert hat, die die italienische Rossini-Pflege, aber auch die Sinfonik sowohl internationaler als auch nationaler Couleur oder die Entwicklung der italienischen Wagner-Pflege hätten unter die Lupe nehmen können, gar nicht zu sprechen von der Opernpraxis in den zahlreichen „Provinzhäusern“, die teilweise äußerst reichhaltig in Klangaufnahmen dokumentiert sind, oder der reichen historisch informierten Aufführungspraxis in Italien. Ein anderer Buchtitel hätte der Publikation gut getan, die die Aufgabe, die sie sich selbst stellt, nicht rundum erfüllen kann.
Vier Beiträge richten den Fokus (wenn auch nicht ausschließlich) auf Arturo Toscanini, in ganz unterschiedlichen Perspektiven: Toscanini als Salome-Dirigent (ein spannender Vergleich mit Strauss’ eigener Sicht), Toscanini als Dirigent französischer Musik (wem wäre bewusst, dass Toscanini eine besondere Liebe zu den Franzosen pflegte?), Toscaninis politische und soziale Funktion in Italien, Toscaninis Einfluss auf De Sabata und Karajan. Merkwürdigerweise wird der vielleicht produktivste Toscanini-Forscher unserer Zeit, der viel zu früh verstorbene Christopher Dyment im ganzen Band kein einziges Mal erwähnt – vielleicht weil Dyments Buch Toscanini in Britain erst im November 2012 erschien, mithin ein halbes Jahr nach der hier dokumentierten Tagung? (Dyments Conducting the Brahms Symphonies: from Brahms to Boult, in dem er sich ausführlich zu Toscaninis Brahms-Sicht äußert und ihrem offenbaren Einfluss auf Vittorio Gui, erschien erst im Februar 2016, mithin zwei Jahre vor dem hier vorliegenden Buch.) Umrahmt werden diese Beiträge durch solche zu den „Schallplatten-Hausdirigenten“ der Schellack-Ära Piero Coppola, Lorenzo Molajoli und Carlo Sabajno, denen wir wichtige Einsichten in die Operninterpretation vor allem vor 1930 verdanken, der italienisch-amerikanischen Cetra-Soria-Schallplattenunternehmung, Giuseppe Sinopolis Mahler-Interpretationen und Claudio Abbados Einsatz für die Musik der Moderne.
Jürgen Schaarwächter
Karlsruhe, 18.12.2018