Das Archiv der Sing-Akademie zu Berlin. Katalog / Hrsg. von Axel Fischer und
Matthias Kornemann. – Berlin: de Gruyter, 2010. – 773 S., Abb.
ISBN 978-3-598-11798-5 : € 169,95 (geb.)
Verglichen mit den empörenden Hemmnissen, denen selbst Doktoranden der Berliner Professoren Kretzschmar, Abert und Schering in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch ausgesetzt waren, wenn sie ihre Forschungen durch Einsichtnahme in die Notensammlung der Berliner Singakademie befördert wissen wollten, können nun paradiesische, spiel- und forschungsfreudige Zeiten anbrechen, die noch ganze Generationen von Musikern und Musikologen genießen werden. Denn nachdem 1932 die Erschließungsarbeiten Max Schneiders und Friedrich Welters abgeschlossen waren, die Sammlung 1943 ins schlesische Ullersdorf evakuiert worden war, um von dort 1946 als Kriegstrophäe nach Kiew transportiert zu werden, dort zunächst im Konservatorium, dann im staatlichen Archivmuseum für Literatur und Kunst deponiert wurde, bis sie schließlich 1999 von Wissenschaftlern der Harvard-Universität dort ausfindig gemacht und gesichtet wurde, sich seit Ende 2001 wieder in Berlin befindet und nun als restituierter Privatbesitz der Sing-Akademie zu Berlin in der Berliner Staatsbibliothek deponiert und auf Mikrofiches reproduziert ist – seitdem diese legendenumwobene Odyssee beendet ist, kann nun endlich mit den Beständen gearbeitet werden.
Es handelt sich bei dieser Sammlung nicht eigentlich um das Archiv der Singakademie, sofern man darunter die Verwaltungsakten verstehen wollte, auch nicht um die komplette Sammlung aller Aufführungsmaterialien aus der Zeit des Bestehens der Akademie bis ins Jahr 1943 (beides muss weiterhin als verschollen oder zerstört angesehen werden), sondern ganz speziell um die von Carl Friedrich Zelter angelegte Notensammlung alter Musik, bestehend aus handschriftlichen und gedruckten Musikalien.
Diese Sammlung umfasst nicht nur die kanonisierten Werke der Helden der Musikgeschichte, sondern bietet in ihrer erstaunlichen Vielfalt einen differenzierten Fundus mindestens einer gesamten Epoche, hauptsächlich der in ihrer Breite bisher eher vernachlässigten zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, speziell des norddeutschen Raums und im Kern der friderizianischen Periode. Neben dem Altbachischen Archiv (der Notensammlung, die Sebastian Bach von der Musik seiner Vorfahren angelegt hatte), der umfangreichen Sammlung von Noten desjenigen Bachs, der heute mit der Bezeichnung „Vater“ eingebürgert ist, und der seiner Söhne Emanuel und Friedemann befindet sich dort ein sensationell ausladendes Korpus mit Werken von Telemann, darunter bisher für verschollen gehaltene Kompositionen. Aber auch der ganze Fundus dessen, was man die Berliner Schule oder Klassik genannt hat, ist hier versammelt (die Gebrüder Graun, Benda, Schaffrath und Quantz). Das Ganze zeigt, wie zäh und pfiffig Zelter, auch unabhängig von unmittelbaren Aufführungsabsichten, gesammelt hat.
Dieser „Katalog“ erfüllt als nacktes Titelregister der archivierten Werke nicht die musikbibliothekarischen Mindeststandards, deren Einhaltung für eine Benutzung unter musikpraktischen Gesichtspunkten wünschenswert gewesen wäre. Er gibt keine Auskünfte über die Fragen, ob nur Partituren oder auch Stimmen, ob Autorenautographe oder nur Abschriften vorhanden sind, und es fehlt bei den Drucken die Angabe der Verlage. Das Register umfasst in numerischer Aufstellung (und zugleich immer noch in der schon von Zelter vorgenommenen Sortierung nach Gattungen) 5.175 Positionen, wobei zu berücksichtigen ist, dass 1. die Zeltersche Kategorie A (Theorie der Musik) mit 288 Titeln weiterhin als verschollen anzusehen ist und 2. sich unter mancher Signatur nicht ein einzelnes Werk, sondern des Öfteren eine umfangreiche Sammlung von Kompositionen befindet. Höchst erstaunlich ist die Tatsache, dass im Notenarchiv einer Institution wie der Singakademie, deren selbstbenannter Zweck das Aufführen geistlicher Vokalwerke gewesen war, der Anteil von dafür geeignetem Material in den Notenbeständen nur 17,8 % ausmacht (verglichen mit 13 % weltlicher Vokalmusik und 5,5 % Opern) und dass die Instrumentalmusik mit insgesamt 56,3 % (davon entfallen 26,2 % auf Orchester- und 30,1% auf Klavier- und Ensemblemusik) überwiegt.
Außer einem 270-seitigen Verzeichnis der Signaturen nach Zelters Gattungen und einem 350-seitigen Verzeichnis nach Komponisten und deren Werken enthält der Katalog noch erstaunliche neun instruktive, aber leider nicht redaktionell aufeinander abgestimmte Aufsätze jener Musikwissenschaftler, die sich bisher mit den Beständen unter verschiedenen Gesichtspunkten beschäftigen konnten. Neben den Herausgebern, die sich mit den Mythen und Legenden um die Restitution des Archivs, mit Zelter als obsessivem Sammler und mit der Gattungsvielfalt der Notensammlung befassen, sind dies Ulrich Leisinger (zur Bach-Sammlung), Ralph-Jürgen Reipsch (zur Telemann-Sammlung), Christoph Henzel (zur geistlichen und weltlichen Vokalmusik), Klaus Hortschansky (zu den Opern), Tobias Schwinger (zur Orchestermusik) und Mary Oleskiewicz (zur Kammer- und Klaviermusik). Besonders der nicht nur sachlich, sondern angeregt-anregend geschriebene Beitrag von Matthias Kornemann über das Original Zelter und dessen nicht nur beharrlich sammelnde, sondern auch deftig und skurril kommentierende Tätigkeit, die in den Dokumenten ihre deutlichen Spuren hinterlassen hat, lässt den unbändigen Wunsch aufkommen, diese Glossen Zelters zu der im Notenarchiv der Singakademie versammelten Überlieferung einmal gesammelt veröffentlicht zu sehen – sie wären dem Goethe-Zelter-Briefwechsel, der wie Kornemann zu Recht bemerkt, weltliterarischen Rang hat, an die Seite zu stellen, zumal sich ihr Verfasser garantiert nicht so exponiert kunstrichterlich geäußert hätte, hätte er nicht auf einen Nachhall in der Nachwelt spekuliert. Dieser sollte ihm, da wir seiner unbescheidenen Ausfälle nun wieder habhaft sind, nicht auf Dauer verwehrt bleiben.
Grundstein aller zukünftigen Beschäftigung mit dem Notenarchiv Zelters in der Berliner Sing-Akademie kann der nun vorliegende, leider nicht ausreichend qualifizierte Katalog dieser einmaligen Sammlung sein, der trotz der genannten Einschränkungen in vielen deutschen und internationalen Musikbibliotheken zugänglich sein sollte.
Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 31 (2010)