Miller, Norbert: Die ungeheure Gewalt der Musik. Goethe und seine Komponisten. – München: Hanser, 2009. – 447 S.: Abb.
ISBN 978-3-446-23299-0 : € 24,90 (geb.)
Obwohl Hermann Hesse sehr musikliebend gewesen ist, stand er Vertonungen seiner Gedichte äußerst misstrauisch gegenüber. Vermutlich beruhte dies nicht nur auf seinem rein persönlichen Geschmack, sondern auf einer allgemein bestehenden Kluft zwischen Dichtern und zeitgenössischen Komponisten. Zu Goethes Lebzeiten bewertete man dies hingegen noch ganz anders, sorgten doch Vertonungen für die rasche Verbreitung der Lyrik; des weiteren erhoffte man sich (wenigstens im günstigsten Fall) eine untrennbare Verbindung von Wort und Ton, wie dies nach herrschender Lehrmeinung in grauer Vorzeit einmal bestanden hatte, etwa bei Homer, der gleichermaßen Dichter und Sänger gewesen war – Musik und Sprache bildeten zu seiner Zeit also eine Einheit. Ein wirklich „neues“ Werk, das die Dichtung gleichsam ersetzte, sollte dabei bitteschön aber nicht entstehen – erwünscht war lediglich eine steigernde und belebende Wirkung. Als „vertonbar“ galten im übrigen eigentlich nur die in gleichmäßigen Strophen aufgebauten „lyrischen Gedichte“, deren Charakter sich naheliegenderweise in einer entsprechenden Musik widerzuspiegeln hatte – durchkomponierte Lieder kamen also nicht in Betracht. Musste vor diesem Hintergrund zum Beispiel Franz Schuberts Erlkönig wegen der variierenden Strophen auf Goethes Ablehnung stoßen, so galt dies umso mehr für die avantgardistischen Huit scènes de Faust, die ein gewisser Hector Berlioz 1828 nach Weimar schickte und – von Goethes musikalischem Berater, Carl Friedrich Zelter, mit Hohn und Spott überschüttet – unbeantwortet ad acta gelegt wurden.
Norbert Miller vermittelt einen guten Eindruck von der Ästhetik der Goethe-Zeit, indem er auf jene Komponisten näher eingeht, die sich der Dichterfürst auserwählt hatte: Philipp Christoph Kayser, Goethes große, aber bald enttäuschte Hoffnung, Johann Friedrich Reichardt, der persönlich ungeliebte, dafür aber recht originelle Zeitgenosse, dann der konservative Geistesverwandte Carl Friedrich Zelter, Ludwig van Beethoven, der sich aber als zu eigensinnig herausstellte und zur dienenden Freundschaft nicht recht taugte, und schließlich Felix Mendelssohn Bartholdy, der 1821 durch Zelters Vermittlung mit dem zweifelhaften Kommentar „Er ist zwar ein Judensohn aber kein Jude“ in Weimar vorgestellt wurde; mit ihm gelangte ein wichtiges Bindeglied zur Musik der Jahrhundertmitte in Goethes engsten Kreis, der die anbrechende Epoche dem Dichter vielleicht hätte näher bringen können – doch dessen Tod setzte 1832 allen Aussichten ein unvermeidliches Ende. Millers Studie stellt eine biographisch wie auch dichtungs- und musikgeschichtlich höchst informative Arbeit dar, die in überschaubarem Umfang und lebendig geschrieben eine künstlerisch spannende Epoche beleuchtet. Lediglich ein paar Notenbeispiele wären zur Veranschaulichung kein Fehler gewesen.
Georg Günther
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 31 (2010)