Kramer, Daniel: Bob Dylan. A Year and A Day. – Köln: Taschen, 2018. – 305 S.: ca. 200 überw. S/W-Abb.; dt.-engl.-frz. Ausg.
ISBN 978-3-8365-7100-5 : € 50,00 (geb.)
Anfang 1964 sitzt der junge Brooklyner Fotograf Daniel Kramer vor dem Fernseher. In der Steve Allen-Show tritt einer von vielen Musikerinnen und Musikern auf, die seit den späten 1950er Jahren an der Wiederbelegung amerikanischer Folk Music arbeiten. Nicht zuletzt ist dieses Revival ein Gegenentwurf zum Rock’n’Roll der 1950er Jahre, dem vorgeworfen wird, in einem Akt künstlerischen Selbstmordes die ehemals lederne Wildheit gegen massenkompatible Samtanzüge getauscht zu haben. Was Daniel Kramer in dem jungen Sänger hört, ist dagegen wieder der als authentisch wahrgenommene Protest gegen die Ungerechtigkeiten der Gesellschaft. Der Song in der TV-Show heißt The lonesome death of Hattie Carroll und handelt von dem Mord an einer schwarzen Frau und der lächerlich kurzen Strafe für ihren weißen Mörder. Der Sänger ist Bob Dylan. Und was danach kommt, ist – wie es so schön und einfach heißt – Geschichte.
Tief beeindruckt nimmt Daniel Kramer Kontakt mit Dylan auf; unbedingt möchte er ihn fotografieren. Lange Zeit hört er nichts. Dann meldet sich Dylans Manager Albert Grossman und lädt Kramer zu einer Fotosession ein. Aus diesem Treffen entwickelt sich eine Zusammenarbeit, die ein Jahr lang bis in den August 1965 anhält. Kramer kann Dylan im privaten Umfeld fotografieren, in Hotelzimmern, im Studio, auf der Bühne. Der Sänger ist von den Fotografien so angetan, dass er sie auf den Covern seiner Alben Bringing it all back home und Highway 61 revisited verwendet. Später wurden Kramers Fotografieren in Ausstellungen gezeigt und 2016 in einer opulenten Ausgabe des Taschen-Verlags als Collector’s Edition veröffentlicht. Dieser mehrere Hundert Euros teuren Ausgabe hat der Verlag nun eine für 50 € erschwingliche Publikation nachgeschoben, die solchermaßen den Weg in die Bibliotheken von weitaus mehr Dylan-Fans finden sollte. Die vorliegende Ausgabe ist dreisprachig, wobei der englische Text als Kommentar zu den Bildern gesetzt wurde und die deutsche und französische Übersetzung im Anhang zu finden ist.
Die einzelnen Kapitel bilden die verschiedenen Fotosessions Kramers ab. Den privaten Aufnahmen in Woodstock, die den Sänger schaukelnd, kletternd, lesend oder Billard spielend zeigen, folgen Fotos vor und während eines Konzertes in Philadelphia. Anschließend begleitet der Fotograf den Musiker in das Aufnahmestudio für die LP Bringing it all back home. Auch wenn man die Musik dieses Albums nicht kennen würde: Das Foto von Dylan mit einer elektrischen Gitarre ist einer der ersten Hinweise darauf, dass sich das akustisch verwöhnte Folkpublikum bald härtere Klänge anhören muss. In dieses Kapitel hat der Verlag zwei aufklappbare Seiten eingebunden, die im Stil eines vierteiligen Flügelaltars den „Heiligen Bob“ am Klavier porträtieren. Den Schwarzweiß-Duktus der bisherigen Aufnahmen verlässt Kramer im nächsten Kapitel, das der Covergestaltung des oben genannten Albums gewidmet ist. Viel Raum nehmen im folgenden Kapitel die Bilder ein, auf denen der Einzelgänger Dylan mit seiner damals wesentlich bekannteren Kollegin Joan Baez zu sehen ist. Die Aufnahmen dieser beiden Ikonen amerikanischer Musik sind grandios! Anschließend ist der Sänger im TV-Studio und mit einem weiteren bewunderten Kollegen, Johnny Cash, zu sehen. Die letzte Session findet am 28.08.1965 im New Yorker Forest Hills Stadion statt. Einen Monat, nachdem er erstmalig mit einer Rockband beim Newport Folk Festival aufgetreten ist und seine Anhänger komplett verstört hat (was wahlweise dem miserablen Sound oder dem nostalgischen, entwicklungsunwilligen Publikum zugeschrieben wird), holt er sich für das Konzert im Forest Hills Stadion Musiker zusammen, die später als „The Band“ Weltruhm erlangen würden, sich aber auch 1966 in England zusammen mit Dylan wegen des Stilwechsels als „Judas“ beschimpfen lassen mussten.
Daniel Kramer hatte das große Glück, Bob Dylan zwölf Monate während dessen erster großer Verwandlung, nämlich die vom Folkie zum Rocker, zu begleiten. Das dies kein leichtes Unterfangen war, wird deutlich, liest man einen von Kramers Kommentaren zu Dylans Persönlichkeit: „… if he didn’t want to be found, you couldn’t find Bob Dylan“ (S. 61). Wie wahr dieses Statement ist, konnte die Weltöffentlichkeit 2016 erleben, als der frisch gekürte Träger des Nobelpreises für Literatur wochenlang nicht auffindbar war. Doch Kramer hatte nicht nur das notwendige Glück, sondern auch viel Talent und das Gespür für den besonderen Augenblick. Kein Bild in dem Fotoband zeigt dies deutlicher als die Aufnahme des lesenden Sängers in einem Hotelzimmer (S. 62). Während Dylan hochkonzentriert in die Zeitung schaut, sind die Blätter verwirbelt, nur schemenhaft zu erkennen: Der Sänger in seiner eigenen Welt, asynchron mit dem Zeitgeschehen um ihn herum. Diese Rolle sollte er bis heute nicht mehr abgeben.
Wenn wir Bob Dylan durch Daniel Kramers Kameralinse ein Jahr lang betrachten, dann ist es genau dieser Eindruck, den wir im Kopf behalten und der von dem Sänger natürlich beabsichtigt ist. Dylan ist der große Unbekannte, der sich inszeniert, wandelt, überrascht und jede festgefahrene Vorstellung von ihm rücksichtslos zertrümmert. Man darf deshalb nicht erwarten, in Kramers Fotografien den Menschen Dylan finden zu wollen. Durch die großartigen Bilder und die nicht minder wichtigen und erhellenden Kommentare Kramers aber kann jeder Leser seinem eigenen Dylan einen Schritt weit entgegengehen.
Michael Stapper
München, 08.12.2018