Diese kostbaren Augenblicke. 275 Jahre Staatsoper Unter den Linden – München: Hanser, 2017. – 288 S.: Abb.
ISBN 978-3-446-25757-3 : € 32,00 (geb.)
Das Buch zum 275. Geburtstag der Berliner Staatsoper (ein gewollter und allein schon wegen der zahlreichen Abbildungen gelungener Prachtband) folgt an sich einer hübschen Idee, nämlich den in den Portikus eingravierten lateinischen Spruch, König Friedrich habe dieses Haus dem Apoll und den Musen gewidmet, aufzufächern. Die Oper ‑ kein „Gesamtkunstwerk“ im Sinne Wagners, aber doch eine kooperierende Vereinigung verschiedener Kunstgattungen oder Musen (inkl. der Streitigkeiten über Hoheitsansprüche) – wird hier unter die Herrschaft der sieben Musen der griechischen Mythologie gestellt und jeder dieser Musen ist ein Kapitel thematisch zugeordnet. Dass das nicht ohne schräge Assoziationen und schiefe Bilder abgeht, ist verständlich. Eingestimmt wird man dazu gleich durch einen Beitrag des umstrittenen Mythologen Raoul Schrott, der einerseits zu Recht die Möglichkeit eindeutiger mythologischer Bezüge relativiert, andererseits hier angewandte Symboliken legitimiert, die sich auf antike Quellen sollen stützen können.
Also: zunächst Apollo, der zeitweilige Musenführer, er bewacht 1742 den Ersteinzug der Musen in das italienische Opernhaus des Alten Fritz und alle weiteren Wiedereinzüge nach Renovierungen, Umbauten und Zerstörungen. Vermutlich hatte er auch bei dem vor einem Jahr vollzogenen Wiedereinzug in ein grundsaniertes und mit wagnertauglicher Akustik ausgestattetes, neu in Preußisch-Rosa erstrahlendes Haus seine Finger im Spiel, denn die investierte dreistellige Millionensumme muss sich ja irgendwie rentiert haben. Dass auch dieser jüngste Umbau und Wiedereinzug nur eine Wiederholung ähnlicher Umstände und Eingriffe in der Vergangenheit war (immer mit dem Ziel, aus dem kleinen Hofoperchen ein preußisch-deutsches Grand-Opéra-Haus zu machen) verdeutlicht der Überblick Detlef Gieses, des Leitenden Dramaturgen des Hauses, der die euphemistische Geschichte des Hauses auf diese apollinischen Momente oder kostbaren Augenblicke zuspitzt. Dies als Fortschritts- und Erfolgslinie darzustellen oder anzubieten hat natürlich den Haken, dass die damit verbundenen akustischen, künstlerischen und opernpolitischen Probleme, die speziell dieses Haus und die ganze Stadt Berlin mit ihren heutigen drei Opernhäusern hat, zugunsten des Hauses Unter den Linden, das angeblich alles können muss und kann, unter den Teppich gekehrt werden. Nach der Aufhebung der Teilung der Stadt hatte die historische Chance bestanden, der Lindenoper eine spezifische Rolle im Ensemble der Berliner Opernhäuser zuzuweisen. Dies wäre auf eine intensive Kultivierung des umfangreichen vorromantischen Repertoires hinausgelaufen. Dazu hätte sie allerdings einen anderen, weniger selbstherrlichen und geschichtsvergessenen Generalmusikdirektor gebraucht und die Stadt eine weisere Kulturverwaltung als dies nach der Wende offensichtlich möglich war.
Seltsam berührt die Feststellung Gieses, dass von Staats wegen der Lindenoper „fast immer jene Freiräume zuteil wurden, die sie zu ihrer Entfaltung benötigte“ (S. 18). Weder die mit Kabinettsordren durchgesetzten ästhetischen und kunstpolitischen Zielsetzungen Friedrich II. noch die späteren Beschränkungen durch Wille und Vorstellung der preußischen Könige und deutschen Kaiser kann man wohl kaum als solche Freiräume bezeichnen, obgleich die der Oper vorgegebenen Tendenzen zu beachtlichen und übrigens wieder aufführenswerten Werken geführt haben (Carl Heinrich Graun, Johann Friedrich Reichardt, Gaspare Spontini, Giacomo Meyerbeer). Aber darf man so über die Affären Reichardt und Mendelssohn hinwegstreifen? So falsch es wäre, die Opern-Aktivitäten der preußischen Herrscher auf ihre politischen Repräsentationszwänge zu reduzieren, so wenig angebracht ist es aber auch, sie als ein ungetrübtes interesseloses Interesse an der Kunst zu beschönigen. Den Gratismut zu einem luxurierenden Opernbetrieb von heute einmal beiseitegelassen, schlug die Stunde künstlerischer Freiheit in Deutschland erst nach der Novemberrevolution und wurde an der Berliner Staatsoper trotz Leo Blech und Erich Kleiber manchmal weniger, manchmal mehr genutzt als an der Krolloper. Über Freiräume während der nationalsozialistischen Diktatur braucht man nicht viel zu rätseln (obwohl Misha Aster auch hier wieder sich windet, Tietjen und Karajan, der nach Blechs „Pensionierung“ seine Chance witterte, als Sternstunden des Berliner Opernlebens anzubieten). Über die produktiven Widerstände während der einheitssozialistischen Diktatur, die von Kleiber, Hans Pischner, Otmar Suitner, Paul Dessau und Ruth Berghaus ausgingen, zum Teil vergeblich blieben, erfährt man einiges.
Gut ausgesuchte Kulturhistoriker, Spezialisten für Architektur, Bühnenbild, Tanz, chorischen und solistischen Gesang, Frauenrollen, Neue Musik der 20er Jahre, Verwicklungen im Nationalsozialismus und für das Komödiantische in der DDR schreiben über die Fortsetzung der irdischen Wirksamkeit der sieben griechischen Musen in Berlin. Es sind demnach folgende Kapitel: Zu Klio mit einer Geschichtsschreibung der Hofoper als Spiegel Seiner Majestät Friedrich II., der auch hier der Große genannt wird, die man als eine gelungene Zusammenfassung der vorhandenen und genutzten Literatur bezeichnen kann (Philipp Blom). Zu Urania über Schinkel und seinen Zauberflöten-Sternenhimmel, überhaupt über die Lindenoper als architektonischen Bühnen-Sternentempel (Susanne Kippenberg). Zu Polyhymnia über die Bedeutung der Opernchöre und das Selbstbewusstsein sowohl der Bürger als auch der Tyrannen (Thomas Macho). Zu Terpsichore über Berlin als Metropole des Balletts (Stephanie Schroedter). Zu Erato über die Diven des Gesangs (Daniel Schreiber). Zu Kalliope über die Helden der Avantgarde in den 1920er Jahren (Eva Gesine Bauer). Zu Melpomene über die Tragik des Heinz Tietjen während der Herrschaft der Nationalsozialisten (Misha Aster). Zu Thalia über den Rossini der Berghaus und andere Streiche während der SED-Diktatur (Karl-Heinz Ott). Zu Euterpe über die Geschichte der Staatskapelle und ihrer Dirigenten (Holger Noltze).
Weder Giese noch Noltze können, wie erhofft, die blinden Flecken in der Geschichte der Lindenoper, die sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts ausbreiten, beseitigen. Der über 40 Jahre lang die musikalischen Geschicke der Staatsoper nach Spontini und Meyerbeer und vor Richard Strauss lenkende Wilhelm Taubert kommt nur als Erfinder der Sinfonie-Soireen vor, wahrlich eine gute traditionelle Vorlage für die Praxis der heutigen Staatskapelle. Die 1840er bis 80er Jahre lernt man in der beigegebenen Chronik mit interessanten Hinweisen kennen, denen nachzugehen sich in Zukunft lohnen würde, um diese empfindliche Lücke in der Geschichtsschreibung der Berliner Staatsoper zu schließen.
Dies Buch ist eine Festschrift, mit der sich die Staatsoper in Berlin selbst feiert, ehrt und belobigt – ein gewagtes Unterfangen. Es will auch ein Geschichtsbuch sein und müsste sich dazu in den Geist früherer Zeiten versetzen können, gibt dies auch vor zu tun, unternimmt es aber nur, um – wie schon Goethes Wagner in seiner Unterredung mit Faust suggerierte ‑ zu zeigen „wie wir’s dann zuletzt so herrlich weit gebracht.“ Typisch für diese Haltung ist der zehnte und letzte Abschnitt im Buch, der unter der Schirmherrschaft der Muse der Musik, der „erfreuenden Euterpe“ steht und die ganze Peinlichkeit schon im Titel trägt: „Daniel Barenboim und seine Ahnen“ (Holger Noltze). Alle und alles nur Vorläufer gewesen der glänzenden Jetztzeit unter dem heutigen Generalmusikdirektor, der zwischen Marmor und Blattgold residiert. Vielleicht wäre es besser (anständiger als ein nicht wohlriechendes Eigenlob) gewesen nicht die angeblich glänzende Gegenwart zum Ausgangspunkt und Maßstab zu nehmen, vielmehr ihr immer wieder selbstherrlich beschworenes Licht etwas mehr unter den Scheffel zu stellen, um stattdessen im Historischen, in der Aufbereitung und Darstellung schwieriger und finsterer Zeiten etwas präziser zu sein.
Peter Sühring
Bornheim, 11.12.2018