Göttert, Karl-Heinz: Die Orgel. Kulturgeschichte eines monumentalen Instruments. – Kassel: Bärenreiter, 2017. 380 S.: Ill.
ISBN 978-3-7618-2411-5 : € 34,95 (geb.)
Der Germanist und passionierte Organist Karl-Heinz Göttert hat in seinem im vergangenen Jahr erschienenen Buch Die Orgel. Kulturgeschichte eines monumentalen Instruments nicht nur eine Kulturgeschichte der ‚Königin der Instrumente‘, sondern fast schon eine kleine Weltgeschichte vorgelegt. Bereits in seiner Einleitung macht Göttert durch Erwähnung bekannter Allgemeinplätze wie der Orgel als vor allem kirchlichem Instrument, als orchestralem Instrument und schließlich als Instrument mit einer ganz ungewöhnlichen Tonerzeugung deutlich, dass diese Pauschalen unter die Lupe genommen werden müssen, zugleich aber auch die Einzigartigkeit des Instruments begründen. Für ihn ergibt sich daraus der Ansatz, keine rein chronologische oder auch technische Geschichte der Orgel zu erzählen, sondern ihren Werdegang gleichsam dreimal zu beleuchten: aus der Sicht des Orgelbaus, der Orgelbauer und schließlich der Organisten, woraus sich wiederum die Hauptkapitel seiner Publikation ergeben.
Im ersten Kapitel, in dem Göttert die Vorgeschichte der Orgel erzählt, führt er die Leser von der Mythologie über die real existierenden Wasserorgeln, bei denen der Ton durch Wasserdruck entstand, bis hin zu Märchenorgeln, die er selber als „phantastische Flunkerei“ (S. 49) bezeichnet. Schon hier wird deutlich, dass Götterts Orgelbuch zwar von einem Fachmann geschrieben ist, sich aber durchaus sehr für interessierte Laien eignet. Spannend und humorvoll, zugleich wissenschaftlich fundiert erläutert er auch die Technik der ersten Orgeln. Seine Quellenarbeit ist beispielhaft, ohne dass er in den Stil einer reinen Fachpublikation mit ellenlangen Zitaten und halbseitigen Fußnoten verfiele.
Im zweiten Kapitel, dem Teil zum Bau der Orgeln, wie wir sie heute kennen, macht er zugleich noch einmal mehr die Tür zur Kulturgeschichte auf. Spannend an Götterts Buch ist vor allem, dass er gedanklich geradezu permanent die Frage nach dem Warum stellt: Warum entstanden die Orgeln? Wo war überhaupt der Bedarf für das Instrument, und was führte zu den immer weiteren Entwicklungen im Orgelbau? Ausgehend von den Klöstern, Kirchen und Stadtkirchen wirft er so einen Blick auf den Orgelbau in ganz Europa mit einer fast gleichzeitigen Blütezeit in Italien, Spanien, Frankreich, den Niederlanden, England und dem deutschsprachigen Raum und erklärt ihre Nationalstile. Technische Änderungen und Verbesserungen stellt er nicht einfach als Fakten dar, sondern erklärt diese aufgrund der vorher vorhandenen Problemstellungen und lässt hierbei auch Streitthemen nicht aus. Der Übergang vom Orgelbau zu den Orgelbauern ist selbstverständlich fließend und führt zum dritten Kapitel des Buches. Eindrücklich beschreibt Göttert die Wanderjahre der Orgelbauer, ihre Sonderstellung in der Ständegesellschaft, Privilegien, aber auch Probleme, die durch das unstete Leben entstanden oder die Spaltung durch die Konfessionen, die sich auch auf die Orgelbauer auswirkte. Gegen Ende dieses Teil einer Orgelgeschichte schweift erstmals der Blick von Europa aus auch nach Amerika, bevor Göttert das Kapitel mit besonders ungewöhnlichen Orgeln der Zukunft bis zum Jahr 2015 abschließt.
Im vierten Kapitel beschäftigt Göttert sich weiterhin ausgesprochen interessant mit den Menschen, die dem normalen Konzertpublikum die Orgel näherbringen, den Organisten. Zwangsläufig tut sich hier wieder die Aufteilung zwischen kirchlich und weltlich auf, denn obschon wir heute die Orgel vor allem und in erster Linie aus der Kirche kennen, sind die ersten namentlich erwähnten Organisten eher aus dem höfischen Kontext bekannt. Dieses Kapitel ist vielleicht auch das kritischste in Götterts Buch, denn hier spricht er wahrscheinlich jedem hauptberuflichen Kirchenmusiker aus der Seele, wenn er offen auf die bis heute bestehenden Probleme von Kirchenorganisten eingeht: „Der Organist hatte es in beiden Konfessionen schwer, war vergleichsweise wenig angesehen, schlecht besoldet.“ (S. 319) Zugleich stellt er aber auch anhand der Orgelvirtuosen vom Barock an heraus, welch umfassende Arbeit Organisten zu leisten hatten und bis heute zu leisten haben. Auch hinsichtlich der Organisten stellt Göttert die nationalen Unterschiede heraus mit Schwerpunkt in Deutschland, Frankreich und auch den USA. Wie aktuell Götterts Buch ist, zeigt auch sein fünftes Kapitel, „Orgelmusik. Von Medienpräsenz, Filmen und Romanen“, in dem er beispielsweise die vorhandenen Orgelmusik-Kanäle im Internet benennt oder auf Romane von Gerold Späth, Robert Schneider oder Jan Lurvink, in denen die Orgel eine Rolle spielt, verweist. Bei der häufigen Verwendung des Mendelssohn’schen Hochzeitsmarsches in Filmen kommt die spitze Feder durch: „Wenn alle Orgelwerke untergingen, wäre es wohl dieses, was es als letztes erwischte“ (S. 379).
Mit der Frage „Was nun?“ endet Götterts spannendes, fundiertes und zugleich niemals trockenes Buch über die Orgel. In seinem Ausblick beschönt er nichts, spricht von den Problemen der klassischen Musik allgemein und der Orgelmusik im Speziellen, ebenso wie von guten und schlechten Ansätzen zur Lösung dieser Problematik. Dass in seinem Buch ganz viel Herzblut und Liebe zur ‚Königin der Instrumente‘ steckt, steht als Plädoyer auf der letzten Seite und soll auch hier als Schlusssatz stehen: „Denn auf eines kann ein heutiger Organist sich immer noch verlassen, wenn er einigermaßen Glück hat und ein attraktives Instrument in einem schönen Raum mit guter Akustik besitzt: Seine Musik ist einzigartig, hat Jahrhunderte überdauert, Generationen gefesselt, Menschen in der ganzen Welt begeistert.“
Verena Düren
Bonn, 14.12.2018