Karel Goeyvaerts – Karlheinz Stockhausen. Briefwechsel / Correspondence 1951–1958 [Markus Bandur]

Karel Goeyvaerts – Karlheinz Stockhausen. Briefwechsel / Correspondence 1951–1958: zweisprachige Ausgabe (Deutsch / English) / Hrsg. von Imke Misch und Mark Delaere. – Kürten: Stockhausen-Stiftung für Musik, 2017. – 423 S.: s/w-Fotos, Werk- und Personenreg.
ISBN 978-3-9815317-9-4 : € 60,00 (geb.) – zu bestellen über www.stockhausen-verlag.com

Der Briefwechsel von Karlheinz Stockhausen und Karel Goeyvaerts ist schon seit längerer Zeit eine wichtige Quelle für die Aufarbeitung des frühen seriellen Denkens. Doch während bislang überwiegend nur die mit kompositionstechnischen Fragen befassten Teile berücksichtigt wurden und lediglich Goeyvaerts’ Briefe in einer vollständigen Ausgabe vorliegen, ermöglicht die vorliegende Edition nun erstmals Einsicht in die vollständige und wechselseitige Kommunikation beider Komponisten während dieser musikgeschichtlich ungemein wichtigen Phase. Stockhausen und Goeyvaerts stehen in den betreffenden Jahren zwar noch erst am Beginn ihrer Laufbahn, nehmen aber in dieser Zeit gleichwohl schon gewisse Weichenstellungen für die Entwicklung der neuen Musik nach 1950 vor. Neben den in der Literatur zur seriellen Musik schon hinreichend gewürdigten Abschnitten zu kompositionstechnischen und musikästhetischen Problemstellungen, die sich an den Werken und Werkprojekten der Briefpartner entzünden und noch immer hinsichtlich ihrer wegweisenden Überlegungen faszinieren, rücken durch diese integrale Briefausgabe nun auch andere Perspektiven in den Blick.
Zum einen erlaubt der sorgfältig edierte Band, die musikalische wie persönliche Entwicklung Stockhausens in diesen für ihn prägenden Jahren (frühe serielle Werke, erste Aufführungen und Kontakte in der Musikszene, schließlich Durchsetzung als Komponist und Leitfigur der neuen Musik) umfassend in seinen eigenen Worten nachzuvollziehen. Daneben ist der Briefwechsel zugleich ein aussagekräftiges Dokument für die während der Darmstädter Ferienkurse 1951 entstandene Freundschaft zweier junger Komponisten (Stockhausen ist Jahrgang 1928, Goeyvaerts fünf Jahre älter), in der zu Beginn Stockhausen noch von Goeyvaerts lernt und sich auf dessen Hilfe – besonders für Stockhausens Bestrebungen, bei Messiaen in Paris zu studieren – verlassen kann. In den folgenden Jahren emanzipiert sich Stockhausen allerdings zunehmend und gewinnt musikalisch wie intellektuell an Statur und Dominanz, was 1958 letztlich mit zum Abbruch der brieflichen Auseinandersetzung führt. Aufschlussreich ist aber auch die kompromisslose Ernsthaftigkeit, mit der beide Komponisten nicht nur sich an die zentralen Fragen einer radikal neuen Musik und ihrer ästhetischen Prämissen herantasten, sondern sich auch mit den Folgen des Krieges in der aktuellen Politik, der Bedeutung von Glauben und Religion sowie den geistigen Strömungen der Zeit in Literatur und Philosophie auseinandersetzen. Selbst in der Reflexion ihrer Lebenspläne und der persönlichen Entwicklungen gleiten ihre Schreiben niemals in bloße Phrasen oder Oberflächlichkeiten ab.
Zum anderen ist dieser Briefwechsel auch unter musiksoziologischem Blickwechsel zu lesen. Die Herausbildung der neuen Musik in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg ist ohne ein Geflecht von Akteuren aus Rundfunk, Musikpädagogik, Publizistik, Verbands-, Verlags- und Konzertwesen (insbesondere Darmstadt und Donaueschingen) undenkbar. In dessen phasenweise noch offener Interessenlage müssen die jungen Komponisten zusehen, wie sie taktierend ihre Ziele, finanziert, aufgeführt und gefördert zu werden, mit gegenseitiger Hilfe erreichen können. Stockhausen erweist sich auch hier nicht nur als der Begabtere, der genau zu analysieren vermag, welche Protagonisten für ihre Zwecke besonders hilfreich sind, sondern bald auch als derjenige, der die Grenzen seines Freundes zwar erkennt, aber ihn dennoch beständig unterstützt.
Schließlich gibt der Briefwechsel in den Passagen über Freunde, Kollegen, Förderer und Organisatoren zu erkennen, wie früh schon zahlreiche und teilweise einflussreiche Protagonisten der Neuen Musik (wie etwa Eimert, Steinecke, Messiaen, Boulez, Pousseur, Nono) sich in diesen Jahren zusammenfinden und ein Netzwerk ausprägen, welches das Musikleben und auch die Richtung der neuen Musik noch weit über das Ende des vorliegenden Briefwechsels hinaus bestimmen sollte.
Schon jetzt lässt sich absehen, dass diese Korrespondenz zu den wichtigen Texten zur Musik im 20. Jahrhundert gehört. Es bleibt zu wünschen, dass weitere umfassende Korrespondenzen Stockhausens mit anderen Komponisten in dieser editorischen Sorgfalt und buchherstellerischen Qualität folgen werden.
Blick ins Buch

Markus Bandur
Berlin, 09.12.2017

 

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