Tarnow, Volker: Ginastera und das Eldorado der Musik. Argentiniens Nationalkomponist im Kontext der hispanoamerikanischen Kunstmusik und der europäischen Moderne. – Berlin: Boosey & Hawkes, 2017. – 218 S.: s/w-Abb.
ISBN 978-3-7931-4164-8 : € 29,95 (geb.)
Der Name des argentinischen Komponisten Alberto Ginastera ist vielen Musikliebhabern geläufig, doch eine konkrete Klangvorstellung stellt sich nur wenigen ein. Bis in die 1970er Jahre wurden seine Werke regelmäßig aufgeführt, heute indes begegnet man seiner Musik nur noch selten im Konzertsaal. Mit am häufigsten ist das Harfenkonzert, dessen komplexe Entstehungsgeschichte sich über fast 10 Jahre hinzog, zu hören, ein sehr wirkungsvolles Stück, das das eher überschaubare Konzertrepertoire für die Harfe entschieden bereichert hat. Gelegentlich dienen frühe Orchesterwerke und Ballettsuiten wie die Obertura para el ‚Fausto criollo‘ op. 9, die Panambí-Suite op. 1a und die Danzas del Ballet ‚Estancia‘ op. 8a als Einspielstück in Konzertprogrammen. Doch die späte Musik vom Ende der 1950er Jahre an, die sich durch ein ganz eigenständiges Idiom auszeichnet (vergleichbar dem enigmatischen Spätwerk Igor Strawinskys), ist fast gänzlich aus den Konzertsälen verschwunden. Abgesehen von der generellen Rezeptionsproblematik nicht-europäischer Musik waren es eben nicht jene Komponisten, die die europäische Moderne in ihrem Werk verarbeiteten, sondern Innovatoren wie John Cage – welche ihrerseits die europäische Moderne mit eigenen Impulsen befruchteten –, die einen Platz im hiesigen Konzertleben gefunden haben. Im Falle Ginasteras kommt noch hinzu, dass sein Name nicht mit einem markanten Schlüsselwerk gleichgesetzt werden kann, wie etwa der Sacre du Printemps häufig stellvertretend für das Gesamtwerk Strawinskys einsteht. Allein schon aus diesem Grund ist die neue Monografie zu Leben und Werk Alberto Ginasteras, die anlässlich des 100. Geburtstages des Komponisten im Jahre 2016 erschienen ist, aufs willkommenste zu begrüßen.
Abgesehen von einem kleinen Sammelband, der 1984, kurz nach Ginasteras Tod erschienen war, ist die vorliegende Publikation die erste umfangreiche Studie zu Leben und Werk des argentinischen Komponisten in deutscher Sprache! (Erschienen sind beide Bücher im Verlag Boosey & Hawkes, der auch den Großteil des musikalischen Werkes Ginasteras betreut).
Volker Tarnow, Musikwissenschaftler, arbeitet als Kritiker und Journalist für Printmedien. Er schrieb eine Sibelius-Biografie (Rez. hier) sowie einen Beitrag zu einem Buch über die Frühgeschichte der Berliner Philharmoniker. Im Falle der vorliegenden Monografie darf die Leistung des Autors ohne Zweifel als Pionierarbeit gewürdigt werden. Der Buchtitel verspricht, den Komponisten kontextuell sowohl in der Kunstmusik Südamerikas als auch in der europäischen Moderne zu verorten. Der tiefere Sinn des Haupttitels Alberto Ginastera und das Eldorado der Musik bleibt jedoch im Dunkeln: Ist das Paradies der Musik bzw. die Musik der argentinischen Heimat gemeint, oder betrachtet Tarnow gar den Komponisten selbst als den Hüter des güldenen Schatzes?
Die ersten drei Kapitel des Buches sind ganz der Geschichte und dem Umfeld der Musik, nicht nur der Kunstmusik Argentiniens, gewidmet. Der Autor glänzt hier mit großem Detailwissen, er entfaltet ein farbiges Panorama des südamerikanischen Musiklebens der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vor dem Auge des Lesers. Erst nach und nach tritt der Mensch Ginastera in diese Welt ein, die er dann immer mehr durch sein Werk und sein Wirken selbst zu prägen beginnt. Die biografische Erzählung steht keineswegs im Vordergrund dieser Monografie, es sind die Werke, die sich nach und nach aus den Facetten der Persönlichkeit und des Lebens Ginasteras herausschälen. Die Werkbetrachtungen sind in einer Weise angelegt, die das je Individuelle, Eigentümliche der musikalischen Faktur herausarbeiten, was gelegentlich eine Nähe zu hermeneutischer Methodik verrät, ohne den nicht musikwissenschaftlich gebildeten Leser mit analytischen Details zu überfordern. Der durchwegs flüssigen Lesbarkeit des Buches kommt dies zugute. Ein Wermutstropfen sind hingegen die nicht eben seltenen, jedoch völlig überflüssigen Invektiven gegen Musikwissenschaft und gegen – aus Sicht des Autors – dogmatische Richtungen der Neuen Musik (etwa S. 46 f. und 62 f.). Derartige Seitenhiebe bleiben ohne Erkenntnisgewinn in Bezug auf den Inhalt des Buches, sie offenbaren nur persönliche Antipathien des Autors.
Im letzten Viertel des monografischen Teils tritt Ginasteras Verhältnis zur europäischen Moderne in das Zentrum der Betrachtung. Sehr spannend zu verfolgen ist das durchaus ambivalente Verhalten des Komponisten im Spannungsfeld der politischen Zeitumstände. Der mit seinen Nachwirkungen bis in die 1980er Jahre währende Peronismus Argentiniens war nicht, wie zu vermuten, allein ausschlaggebend für Ginasteras Entscheidung, seine letzten 12 Lebensjahre in der Schweiz zu verbringen – es waren dies vordergründig persönliche Lebensumstände im Gefolge einer schweren Schaffenskrise.
Ergänzt wird das Buch durch ein detailliertes chronologisches Werkverzeichnis, ein Personen- und ein Werkregister sowie durch eine Chronologie der Lebensstationen.
Zu wünschen wäre dem Buch über den äußeren Anlass hinaus – dem 100. Geburtstag des Komponisten – eine große Leserschaft und, als Folge davon, eine steigende Verbreitung und Kenntnisnahme der Musik Alberto Ginasteras.
Rüdiger Albrecht
Berlin, 15.11.2017