Tarnow, Volker: Sibelius. Biografie – Leipzig u. Kassel: Henschel u. Bärenreiter, 2015. – 288 S.: s-Abb., Personenreg., Literaturverz., Vita, Diskografie (Auswahl)
ISBN 978-3-89487-941-9 u. 978-3-7618-2371-2 : € 24,95 (geb)
Fotos sind als Momentaufnahmen sicher keine unbedingt verlässlichen Beweisstücke über die Erscheinung, gar das Wesen eines Menschen, aber es lohnt, zwei Schnappschüsse in Volker Tarnows Biografie über Jean Sibelius (zu dessen 150. Geburtstag) zu vergleichen. Der eine zeigt einen in sich gekehrten, ernsten, kontemplativen Mann (S. 272), der andere einen frohgemuten Sanguiniker (S. 266). Die letzte Charakterisierung mag erstaunen, aber der Buchautor hielt bereits 2007, im 50. Todesjahr von Sibelius, in einem Zeitungsartikel als Tatsache fest, dass der Komponist schon lange nicht mehr als ein „in Finnlands Folklorehöhle herumtappender Waldschrat“ gelte. Diese locker-witzige Formulierung ist nicht untypisch für Tarnows Buch, welches profunde Kenntnis von Sibelius‘ Oeuvre (sowie den Werken skandinavischer Komponisten vor und nach ihm) erkennen lässt, dies aber nicht aufdringlich und akademisch trocken unter Beweis zu stellen sucht. Eine Beschreibung des Sanguinischen bei Sibelius wird übrigens geliefert: Modebewusstsein, Trinkfreudigkeit, Lust auf Frauen. Erotische Eskapaden dauerten sogar bis in die prinzipiell sehr glückliche Ehe mit Aino Järnefelt (1892-1957) hinein. Eine Selbsteinschätzung des Komponisten lautet: „Zur Hälfte Kirche und zur Hälfte Hölle“ (S. 12).
Sibelius war durchaus kein Spätentwickler, nur blieben die meisten Jugendwerke lange Zeit unbekannt. Auch in die Rolle eines finnischen Nationalkomponisten wuchs er, der sich zunächst schwedisch fühlte und widerwillig akzeptierte, dass finnische Bauern zu seinen Vorfahren gehörten, nur zögerlich hinein. Unter den Charakterisierungen Volker Tarnows über die kompositorische Individualität von Sibelius ist die vom „Spagat zwischen stilistischem Primitivismus und progressiv erweiterter Tonalität“ (S. 97) eine der griffigsten, bildhaftesten und weist abschätzige Urteile wie die von Adorno oder die des Dirigenten René Leibowitz („schlechtester Komponist der Welt“) nachdrücklich in die Schranken.
Den sich als siegreich erweisenden Weg des Sinfonikers Sibelius (von Dirigenten wie Karajan und Bernstein schon früh erkannt) beschreibt Tarnow mit musikologischer Fundiertheit, dabei sprachlich immer angenehm locker und häufig gewürzt mit einer Prise Humor, so dass die Lektüre seines Buches nicht zu einer seminaristischen Anstrengung wird. Überhaupt gefällt, wie Biografisches und Analytisches fast reigenhaft miteinander verwoben wird.
Das Verhältnis von Jean Sibelius zum Nationalsozialismus gilt als ein besonders heikles Kapitel in der Vita des Komponisten. Auch Volker Tarnow vermag nicht alle Widersprüche aufzulösen, doch wirken seine „verteidigenden“ Argumente überzeugend und werden von einer Interviewaussage von Sibelius bestätigt: „Diktatur und Krieg widern mich an … Das ist einer der Gründe, warum ich in über 20 Jahren nichts geschaffen habe, was ich mit ruhigem Herzen der Öffentlichkeit hätte übergeben können.“ (S. 273). Womit auch das oft diskutierte kompositorische Schweigen des alten Sibelius eine Erklärung gefunden hätte.
Christoph Zimmermann
Köln, 17.11.2015