Ted Gioia: Jazz hören – Jazz verstehen [Michael Stapper]

Gioia, Ted: Jazz hören – Jazz verstehen. / Aus dem Engl. von Sven Hiemke. –Leipzig u. Kassel: Henschel u. Bärenreiter, 2017. – 207 S.:  Tab.
ISBN 978-3-89487-948-8 : € 24,95 (geb.)

Den Titel sollte man ernst nehmen: Jazz hören – Jazz verstehen. Denn eine Plattitüde ist diese Formulierung keineswegs, holt sich der Autor dieses bei Henschel Bärenreiter erschienenen Sachbuches, Ted Gioia, doch schon vor der Titelei Schützenhilfe bei dem unangreifbaren Duke Ellington. „Listening is the most important thing in music.“ Mit diesem Zitat legt Gioia in wenigen Worten die Grundlage seines theoretischen Konzeptes offen, das er auf den folgenden, rund 200 Seiten mit verschiedenen Perspektivwechseln durchführt. Der Reihenfolge des im deutschen Titel verwendeten Wortpaares (das Original, How to listen to Jazz, ist hier weniger eindeutig) kommt eine besondere Bedeutung zu: Gioia möchte den Leser vom Hören zum Verständnis führen und verweist hiermit gleichzeitig auf die angesprochene Zielgruppe. Es sind weder der praktizierende Musiker, den der Autor im Blick hat, noch der an musiktheoretischen Grundlagen interessierte Jazzfan. Es ist der Neuling, unerfahren in Quintenzirkeln und Polyrhythmik, den Gioia durchaus mit missionarischem Impetus auf den rechten Pfad führen möchte.
Es wäre naheliegend, Gioias Herangehensweise auf dessen berufliche Ausbildung und Karriere als Literatur- und Politikwissenschaftler sowie Wirtschaftsberater zurückzuführen. Als Außenseiter würde sich der Weg über das rein akustische Ereignis geradezu anbieten. Aber dies wäre ein klassischer Kurzschluss, denn der 1957 geborene Autor hat sich über Jahrzehnte hinweg als praktizierender Jazzpianist und Komponist, vor allem aber als Buchautor, Redner und Kritiker einen Namen in der US-amerikanischen Jazzwelt gemacht. Seine bestens aufgenommene History of Jazz (1997, Oxford University Press), für die er nicht uneigennützig wiederholt Werbung in der vorliegenden Publikation macht, gilt beinahe als Standardwerk. Der Leser darf sich somit vertrauensvoll in Gioias Hände begeben und ihm durch ein Jahrhundert Jazzgeschichte, Musiker und Stile folgen.
Gioia nähert sich dem Jazz über den Rhythmus, bevor er weitere musikimmanente Bestandteile wie Phrasing, Tonhöhe, Klangfarbe oder Dynamik einer kurzen, bisweilen etwas oberflächlichen Analyse unterzieht. Hier wie auch in den späteren Kapiteln ruft der Autor dazu auf, so viel Musik wie möglich zu hören. Der Verweis auf die unermesslich große Musiksammlung im Internet über Streaming-Portale einerseits und die sehr ausgiebig eingestreuten Hörempfehlungen andererseits lassen keine Ausrede gelten, Gioias Ratschlag nicht zu befolgen, und bieten wertvolle Unterstützung. Weiter geht es mit einer detaillierteren Betrachtung der Strukturen einzelner Jazzstücke, durch die der Autor dem Leser ein Verständnis von den oftmals symmetrisch aneinandergereihten Taktgruppen vermittelt. Diese bisherigen Ausführungen, die ungefähr ein Drittel des Gesamtvolumens ausmachen, sind durchaus geeignet, dem ungeübten Leser bzw. Hörer Ankerpunkte zu bieten, an denen er sein Gehör schulen kann. Hat er erst einmal begriffen, dass ein 12-taktiges Bluesschema kein Wunderwerk der Komplexität ist, kann er von diesem Level aus schrittweise die nächsten Stufen der Erkenntnis erklimmen. Dieser Weg führt nun in die Musikgeschichte hinein, ausgehend von den Kaschemmen in New Orleans über die Tanzcafés und Hotels in Chicago und Kansas City bis zu den Konzertsälen von New York. Bebop, Cool Jazz, Hard Bop, Free Jazz, Jazzrock und Weltmusik sind weitere Meilensteine, bevor Gioia sich einigen wenigen Musiker zuwendet, die seiner – durchaus konsensfähigen – Meinung nach zu den Revolutionären und Erneuerern der Musik gehören: Louis Armstrong, Coleman Hawkins, Duke Ellington, Billie Holiday, Charlie Parker, Thelonious Monk, Miles Davis, John Coltrane und Ornette Coleman. Es zeugt von der Stimmigkeit von Gioias Konzept, dass er in diesen Kurzbiografien manche Aspekte vertieft, die er in den vorangegangenen Kapiteln nur beiläufig erwähnt hat. So kann er hier beispielsweise seine vorher geäußerte Theorie über den bis heute andauernden Einfluss von Louis Armstrong auf viele Jazzmusiker ebenso belegen wie eine Würdigung von Duke Ellington, den er nicht nur als Komponist und Pianist schätzt, sondern auch als Manager seiner Big Band. Dessen Führungsstil, davon ist Gioia überzeugt, könnte auch manchem Wirtschaftsunternehmen durchaus guttun. Gioia beendet sein Buch mit einer ungewöhnlichen, aber sehr aufschlussreichen Liste von 150 Musikerinnen und Musikern, die sich zur Jetztzeit am Anfang oder in der Mitte ihrer Karriere befinden und künftige Beachtung verdienen.
Ted Gioias Ansatz ist ein populärwissenschaftlicher. Er will den Leser, der sich mit dem Genre Jazz, ja überhaupt mit Musik bislang nur oberflächlich und unbewusst beschäftigt hat, das Mysterium und die Komplexität dieser Kunstrichtung offenbaren. Zu tief darf er dabei nicht in die Analyse eindringen, um den Leser in fachlicher Hinsicht nicht zu überfordern. Dies führt jedoch bisweilen dazu, dass er seine Thesen nur grob mit Beweisen unterlegt. Gioias Schreibstil ist stark von dem in angloamerikanischen Publikationen bekannten Plauderton geprägt. Rhetorische Fragen wechseln sich mit witzig gemeinten Formulierungen und einem Hang zu ausschweifenden Passagen ab. Auch neigt der Autor bisweilen zu überheblichen, durchaus verzichtbaren Aussagen über Musiker außerhalb des Jazzkosmos. Mit dem Verweis auf Benny Goodmans Konzerte in der Carnegie Hall, bei denen auch Stücke von Mozart erklangen, zu fragen, wann ein solches Ereignis von Justin Bieber oder Taylor Swift zu erwarten sei, wirkt sich eher unvorteilhaft auf den Fragesteller als auf die zeitgenössischen Popkünstler aus (S. 101).
Ob das Buch tatsächlich einen „Platz unter den Klassikern der Jazzliteratur“ verdient hat, wie es ein auf dem Buchrücken abgedrucktes Zitat aus der Washington Post nahelegt, sei dahingestellt. Dafür ist Gioias Konzept trotz seiner eigenen Beteuerungen wohl auch nicht einzigartig genug. Nimmt man den Autor jedoch ernst und lässt sich auf das Wagnis ein, einen Zugang zum Jazz rein über das Hören zu erlangen, so wird dieser Perspektivwechsel und das Vertrauen auf die eigenen Hörfähigkeiten mit Sicherheit gute und interessante Resultate mit sich bringen.

Michael Stapper
München, 03.10.2017

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