Peter Schleuning: So könnte es gewesen sein – Musikergeschichten [Michaela Krucsay]

Schleuning, Peter: So könnte es gewesen sein – Musikergeschichten. Johann Sebastian Bach, Carl Philipp Emanuel Bach, Wolfgang Amadé Mozart, Ludwig van Beethoven und Fanny Hensel. – Hildesheim u.a.: Olms, 2017. – 176 S.: 5 Abb.
ISBN 978-3-487-08588-3 : € 22,00 (Br.)

„Se non è vero, è molto ben trovato“ – dieser längst sprichwörtlich gewordene Satz Giordano Brunos lässt sich in trefflicher Weise auch auf die jüngste Publikation des Musikwissenschaftlers Peter Schleuning anwenden, die den ganz und gar programmatischen Titel So könnte es gewesen sein trägt. Schleuning verfolgt damit zwar keineswegs einen neuen, aber doch eher unkonventionellen Ansatz, der auf die Historische Musikwissenschaft, hinge sie noch überwiegend einer positivistisch-konservativen Doktrin an, als beinahe ebenso ketzerisch wirken könnte wie Brunos Weltbild auf die Kirche des 16. Jahrhunderts. Dabei bewegt sich Schleuning mit dem hier verfolgten Bestreben nach einer zugänglichen Synthese von „Elementen wissenschaftlicher Forschung und solchen munterer Erfindung“ (S. 7) – wohl bemerkt, nicht ohne in „klärenden Anhängen“ (S. 9) das eine wie das andere seriös auszuweisen – nicht nur durchaus am Puls der Zeit, sondern er verweist in seiner Einleitung zu Recht auch auf die Tradition, in die er sich mit seinem neuen Buch einreiht: Als seine literarischen Vorbilder nennt der Autor vor allem Friedrich Schillers Wallenstein-Trilogie, Karl Kraus‘ Die letzten Tage der Menschheit und, konkret auf die Musikwissenschaft bezogen, Harry Goldschmidt, der 1981 unter dem Pseudonym Titus Oliva Es muß sein. Ein Lesebuch zu einem imaginären Beethoven-Film publizierte. (Vgl. S. 10)
Vier seiner fünf Kapitel widmet Schleuning zunächst in chronologischer Folge prominenten Männern: Johann Sebastian Bach, dessen Sohn Carl Philipp Emanuel Bach, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven. Ihnen stellt er schließlich mit Fanny Hensel (geb. Mendelssohn) eine Frau an die Seite, die zu den immer noch vergleichsweise wenigen Komponistinnen der Vergangenheit zählt, deren Name auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sind. Dass auch sie Eingang in die Auswahl des Autors gefunden hat, von der er mit erfrischender Offenheit zugibt, dass sie weit eher subjektiv denn sachlich erfolgte und hauptsächlich „von der zufälligen Ansammlung meiner Kenntnisse bestimmt war“ (S. 8), verdankt sich nicht zuletzt dem Umstand, dass Peter Schleuning bereits vor einer Dekade die erste umfassende, originär deutschsprachige Biographie zu Hensel vorgelegt hat, die als 6. Band der Reihe Europäische Komponistinnen im Böhlau Verlag erschienen ist (Fanny Hensel geb. Mendelssohn. Musikerin der Romantik, Köln u.a. 2007). Schleunings offensives Bekenntnis zu einer subjektiv-aleatorischen Auswahl seiner ProtagonistInnen resultierte, wie er einleitend reflektiert, nicht zuletzt aus seinen Zweifeln am ursprünglichen Titelvorschlag des Verlags, Sternstunden der Musik, von dem eine direkte Linie zum Konzept des „Herausragens“ nach Stefan Zweig geführt hätte. Davon distanziert sich der Autor der gegenständlichen Publikation jedoch mit einem schlagenden Argument: „Denn dies Kriterium hat bei Zweig stets zur Voraussetzung, dass ein Ereignis in die Zukunft strahlt und sie bestimmt und dass es fast immer von großen Einzelpersonen – sprich: Männern – ausgeht. Wie viele Ereignisse aber haben diese Eigenschaften? Sicherlich Tausende oder Millionen.“ (S. 7) Dass dennoch mit dem vorliegenden Endresultat unwillkürlich auch eine Fortführung des bereits bestehenden Kanons dieser „großen“, meist männlichen Individuen einhergeht, ist ein mutmaßlich nicht gänzlich unkalkulierter Nebeneffekt, da wohl aus naheliegenden Gründen die zu erfüllende Erwartungshaltung des sich überwiegend aus musikinteressierten Laien zusammensetzenden Zielpublikums bei der zu treffenden Auswahl wenigstens teilweise mitbedacht werden musste – und welchen Reiz hätten schon „Musikergeschichten“, die ohne den Glanz bewährter All-stars wie Mozart und Beethoven auskommen müssen? Die Rechnung geht sicherlich auf.
Als besonders gelungen hervorzuheben ist allerdings gerade das Kapitel Freye Fantasien zu Carl Philipp Emanuel Bach, verfasst in der Form eines inneren Monologs, mit dem sich Schleuning schon etwas weiter abseits des Mainstreams bewegt. Der ihm ebenso wie auch fast allen anderen Abschnitten angeschlossene Anhang gibt der interessierten Leserschaft mit einem zusätzlichen Namensregister ein nützliches Werkzeug der Orientierung im dichten Gewebe der historischen Referenzen an die Hand. Lediglich mit dem Teil Mozart in Wien Mitte des Jahres 1788, der die formal besondere Position eines Achsenstücks in der Buchmitte einnimmt, durchbricht Schleuning dieses selbstgewählte System von informativen, auch zum Beleg der verwendeten Quellen dienenden Anhängen, mit dem er Klarheit in den Unterschied zwischen belegbaren Fakten, Fiktionen und der Grauzone des „Dazwischen“ als Spielwiese der Möglichkeiten zu bieten sucht.
Nicht immer sofort erschließt sich beim Lesen von Schleunings zweifellos inspirierten, oft humorvollen und fachlich wohl fundierten Dialogen und Episoden auch sein Anspruch, eine „Neu- und Uminterpretation von Charakterzügen“ (S. 11) seiner ProtagonistInnen zu offerieren; die diesbezüglichen Hinweise erweisen sich als eher subtil. So schreibt er zwar durchaus das traditionelle Beethoven-Bild vom aufbrausenden, streitsüchtigen Genius fort, jedoch nicht, ohne es um weniger geläufiger Facetten zu bereichern, wie etwa die abschätzige Haltung, die Beethoven gleichermaßen gegenüber Juden und Italienern hegte (S. 107, S. 141).
Mit dem Fanny Hensel gewidmeten finalen Kapitel begibt sich der Autor schließlich auf das Terrain der in der Literatur ebenso bewährten wie innerhalb der Geschichtswissenschaft umstrittenen kontrafaktischen Geschichte, indem er das fiktive Szenario entwirft, Hensel habe ihren Bruder Felix Mendelssohn überlebt. Fanny Hensels sprachliche Eigenheiten aufgreifend entwirft Schleuning eine Reihe imaginärer Briefe, die sie in der hier geschaffenen alternativen Realität unmittelbar nach ihrem realiter tödlichen Schlaganfall im Mai 1847 an den Bruder richtet.
Manchmal liest sich Peter Schleunings Buch wie das Skript zu einem Theaterstück – sicherlich hätte es eines werden können. Mit viel Sinn für Performance, mit Freude am Erzählen und am Nachspüren der Frage, wie „es gewesen sein“ könnte, bietet Schleuning auf unterhaltsame und durchaus informative Weise eine der möglichen Antworten darauf an. Es ist ein launiges Nachdenken, zu dem er seine Leserschaft einlädt, das zweifellos noch lange nachklingt, wenn man die letzte Seite zu Ende geschmökert hat. Von der eher fragwürdigen Umschlaggestaltung des Buches sollte man sich nicht abschrecken lassen, diese Einladung anzunehmen.

Leoben, 21.09.2017
Michaela Krucsay

 

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